Was vor der Wunscherfüllung kommt

Romantik oder Zynismus – das ist hier die Frage: In Richard Linklaters neuem Film „Before Sunset“ begegnen sich die Hauptfiguren aus „Before Sunrise“ wieder. Um neun Jahre gealtert flanieren sie durch ein sommerliches Paris und wollen von „one night things“ nichts mehr wissen

Nein, „Before Sunset“ ist kein Remake von „Before Sunrise“, dem Film von 1995, in dem Jesse (Ethan Hawke) aus Texas und Céline aus Paris (Julie Delpy), beide Anfang zwanzig, sich während einer langen Nacht in einem Zugabteil und in den Straßen von Wien kennen lernten, miteinander über Gott, die Welt, ihre Großmütter und andere Twenty-Somethings-Themen redeten, miteinander schliefen und mit einem vagen Versprechen, aber ohne den Austausch von Telefonnummern wieder auseinander gingen. In „Before Sunset“, den Richard Linklater mit gleichem Personal neun Jahre später gedreht hat, geht es nicht mehr um „one night things“ und die Frage, ob eine zufällige Reisebekanntschaft das ganze Leben verändern könnte. Aus den Jugendlichen sind Erwachsene geworden. Céline ist in einer festen Beziehung, Jesse hat Frau und Kinder, und die Frage lautet nun, ob man sich als über Dreißigjähriger noch der Romantik oder doch schon dem Zynismus verpflichtet fühlt.

Es steckt ein bisschen von beidem in der Wiederbegegnung der zwei. Jesse hat einen Roman über jene Nacht geschrieben, ist damit auf Lesetour durch Europa und hat in einer Pariser Buchhandlung gerade seinen letzten Auftritt vor dem Rückflug absolviert, als unvermittelt Céline vor ihm steht. Später wird Jesse ihr gestehen, dass genau darin sein Kalkül gesteckt habe: sie mit Hilfe des Buchs und der Lesereise wieder ausfindig zu machen. Rein blindlings kann der schicksalsfügenden Macht des Zufalls also nicht mehr vertraut werden, so viel hat man gelernt mit dem Älterwerden. Die beiden nehmen ihre Endloskonversation wieder auf, als hätten sie sich nie aus den Augen verloren, allerdings unter neuen Vorzeichen: Beide wissen, dass es jetzt nicht mehr bloß um eine Romanze, sondern endgültig um alles oder nichts geht. Sollte Jesse sein Flugzeug erreichen, wird er nicht mehr zurückkehren.

80 Filmminuten reden die beiden vor wechselndem Hintergrund (Straße, Café, Park, Touristendampfer, Taxi) miteinander über – und um – ihr Leben, ihre Ansichten, Erfahrungen und Enttäuschungen, über das, was sie aus sich machen wollten, und das, was aus ihnen geworden ist. Und gelangen, über vorsichtige Annäherungen, zurückgehaltene Antworten, Ausweichmanöver und plötzliche Ausbrüche rückhaltloser Offenheit bis zur letzten Szene immer nur beinahe so weit, wie sie eigentlich beide gehen möchten. Fast so, als wollte der Film beweisen, dass sich das Dilemma des Zynikers von dem des Romantikers in letzter Konsequenz nicht unterscheidet: Will der Erste sich auf nichts einlassen, weil ihm die Wirklichkeit ohnehin als bereits verloren gilt, so scheut der Zweite die Realisierung seiner Träume, weil die nun einmal immer nur um den Preis von Enttäuschung zu haben ist.

DIETMAR KAMMERER