DIE SPD RÄTSELT ÜBER IHRE WÄHLER – UND HAT EIN AKZEPTANZPROBLEM
: Zu doof, zu stur, zu rachsüchtig

WählerIn zu sein erfordert heutzutage ein starkes Nervenkostüm. Allein schon die Projektionen, die man aushalten muss, diese Mutmaßungen der Politik über den Entwicklungsstand und die Geistesverfassung des Wahlvolks. Jetzt zum Beispiel: das Akzeptanzproblem! „Sie haben es nicht akzeptiert“, sagte SPD-Parteichef Franz Müntefering nach dem Wahldebakel der SPD bei der Europawahl und meinte damit die mangelnde Einsicht des Wählers in die Sozialreformen.

Das war eine Aussage, die sich auf eine emotionale Befindlichkeit bezog. Noch im Februar hatte Bundeskanzler Schröder intellektuelle Defizite beim Wahlvolk vermutet. Damals bedauerte er die „Vermittlungsschwierigkeiten“, die die Politiker hätten, dem Wahlvolk die Sozialkürzungen nahe zu bringen. Mehr auf den persönlichen Entwicklungsstand zielen Aussagen, die den BürgerInnen gerne eine Protestwahl unterstellen, wenn eine Regierungpartei Stimmen verloren hat.

Zu stur, zu doof, zu rachsüchtig: Das Image der WählerInnen bei der Politik ist mies. Erst recht, wenn es um die arbeitslosen Wähler geht, jener Spezies, die zusätzlich zur schwierigen Lebenslage besonders widersprüchliche Projektionen aushalten muss. Den Arbeitslosen wird abwechselnd Faulheit, dann wieder ausgefuchstes Marktverhalten unterstellt, was angeblich dazu führe, dass schlecht bezahlte Jobs nicht angenommen würden und man deswegen dringend die Sozialleistungen kürzen müsse. Womit wir wieder beim Akzeptanzproblem wären.

Die Psychologisierung der WählerInnen durch die Politik ist jedoch nicht nur lustig anzuhören, sondern hat auch eine Nebenwirkung: Darin liegt eine Herabwürdigung der BürgerInnen, die zu Objekten der Wahlforschung werden. Hinter dieser Herabwürdigung steckt der Wunsch der Regierenden nach Kontrolle. Doch vielleicht ist es genau dieser Wunsch nach Kontrolle über die WählerInnen, von dem sich die Sozialdemokraten fürs Erste verabschieden sollten. Jeder Regierungsjob ist immer auch ein Risiko. Und vielleicht liegt darin das Akzeptanzproblem, das nicht die Wähler, sondern vielmehr die Politik für sich lösen muss.

BARBARA DRIBBUSCH