Letzte Ausfahrt Sossenheim

Man sieht auf Frankfurter Märkten Typen, die aussehen wie abgestürzte Kneipenwirte. Wenn man dann lauscht, reden sie mit ihresgleichen über die neueste Wagner-Inszenierung . Zu dieser Szene – einer zugleich volkstümlich und elitär gestimmten Subkultur – gehörte auch Chlodwig Poth, ein Mann mit einem scharfen Blick unter einer altmodischen, dicken Brille mit einem weißen Rauschebart.

Poth war ein vorsichtiger Mann, den man sich kaum vorstellen konnte ohne die Verstärkung seiner Frau Anna Poth. Bis zuletzt, als der Krebs ihm die Kraft genommen hatte, fuhren die beiden mit dem Stadtbus zur Redaktion der Titanic, um die akribisch getuschten Blätter abzugeben, zwei ganz genau, mit denen Chlodwig Poth das Monatsblatt versorgte. Die Juliausgabe der Titanic enthält sowohl Bernd Pfarrs Sondermann-Kolumne (Vorder-/Rückseite) als auch die Doppelseite „Last Exit Sossenheim“ von Chlodwig Poth; so frisch liegt das Werk beider da, und sie sind innerhalb von zwei Tagen beide abgetreten. Poth war das Urgestein der Szene, Zeichner schon bei Pardon, und gehörte mit Hans Traxler zu den Unbeirrbaren, die dem Satiredampfer(chen) Titanic den Ofen einsetzten, der heute noch feuert.

Für jemanden, der ein abgeklärter, listiger Satiriker werden wollte, war Chlodwig Poth 1930 zu früh geboren. Aufgewachsen in Berlin-Tempelhof – wie er knapp die Biografie seiner Jugend fasste –, produzierte er ab 1946 für diverse, längst vergessene Blättchen „Witzmüll“ und besuchte die Hochschule für angewandte Kunst. Wiederum zu früh wechselte er nach Frankfurt, wo er sehr viel später generationsunspezifisch ein 68er wurde und blieb. Mit der Erfindung des „Roman Kompress“ – übelstes Reader’s Digest von gar nicht so schlechter Literatur –, dockte er an an die subversive Wendung amerikanischer Genres; frischer Wind aus San Francisco.

Aber erst in den 70ern, mit der Nischenbildung der Ökofritzen, Politmissionare und Sexgurus, konnte Poth, beginnend mit seinen „Wimmelbildern“, wirklich zeigen, wo er herkam: von Wilhelm Busch. Er harmonisierte komplexe Szenen mit einem feinen Federstrich, der mühelos in den Eichen den Wind zeigte und unter dem T-Shirt den Busen. Man sieht deutlich die Handschrift des Älteren, der zurückgelehnt den ideologischen Frust mithörte und in Sprechblasen dokutypisierte: Vor allem waren auch die Texte handgezeichnet, filigran und dekorativ wie das Ganze. Freimut Wössner hat dann den Stil, mit eigener Hand, nach Berlin zurückgebracht.

Von der Detailkritik des „progressiven Alltags“ arbeitete Poth sich vor in eine freie Erzählform, mündend im „Tanz auf dem Vulkan“: voll ausgeschmückte Seriencartoons, in denen die gewöhnlichen Verbrecher und Versager ihren Göttern und Racheengeln begegnen. Dass er zur gleichen Zeit satirische Romane schrieb, liegt nahe. Poth, der Kiffer, hatte jede Menge Stoff.

Viele Jahre hat das verschworene Ehepaar im Frankfurter Nordend gewohnt, vis-a-vis den TV-prosperierenden Kollegen. Als Rentner, der zu werden er sich nicht leisten konnte, zog er mit Anna schließlich in ein altes Schulhaus in Sossenheim, einem zum Durchgangsort verkommenen Dorf nahe der Autobahn. Von dort aus, seit vierzehn Jahren, lieferte Poth seine Cartoon- Haikus, und die Sensation war die Farbe. Er hatte zuvor schon schwarz-weiße Cartoons koloriert, aber nun zeigte er sich plötzlich und ohne Lücken als Meister der Feder, der die verbauten Fassaden und verstellten Perspektiven des Nicht-Orts in luftige Hochformate verwandelte: „wahnsinnige Tusche-Szenarios“, mit Stephan Rürup von der Titanic. So wurde er, noch einmal, ein Chronist des westdeutschen Alltags, der Moden und Perversionen zu Sinnbildern zusammenschob, alles gespiegelt, nun nahezu unsichtbar, in Literatur und Film. Die Neue Frankfurter Schule, sie ist keine: Sie kennt nur freie Geister. Chlodwig Poth war einer von ihnen. ULF ERDMANN ZIEGLER