Draußen vor der Stadt

Links und rechts der Neiße gehen Gubener und Gubiner ihrer eigenen, getrennten Wege. Selbst an langen, hellen Sommertagen. Momentaufnahmen aus Europas neuer Mitte

VON LORENZ KIENZLE (FOTOS)UND UWE RADA (TEXT)

Neulich schickte mir eine Freundin eine Mail aus Guben. Nun ist es so weit, schrieb sie, jetzt fangen die Leute an, das Essen von der Mülldeponie zu holen. Ich wusste nicht so recht, was ich mit der Nachricht anfangen sollte. Armselige Gestalten, die sich aus der Mülltonne ernähren, gibt es auch in Berlin. Warum also nicht in Guben?

Warum nicht in einer Stadt, die manch einer nicht mehr zu den schrumpfenden, sondern zu den sterbenden Städten Ostdeutschlands zählt? Jeder Fünfte ist seit der Wende weggezogen. Zurück bleiben die Alten und die, die es nicht in den Westen geschafft haben. Die Müllkippe liegt da schon näher.

Ich habe ihr das nicht geschrieben, vielleicht weil ich fürchtete, die Antwort geriete zu harsch. Oder zu polnisch. Erst vor kurzem war ich in einem Dorf, da bat mich eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren zu sich ins Haus. Sie brühte Tee auf und fragte, wann ich das nächste Mal in eine Apotheke käme. Ich muss sie wohl etwas begriffsstutzig angestarrt haben, also erklärte sie, was sie brauchte: Schmerztabletten. Sie habe einen Hirntumor, der könne nicht mehr behandelt werden, nur die Schmerzen, die ließen sich vielleicht lindern. Wenn man eine Apotheke in der Nähe habe und etwas Geld, um die Medikamente zu kaufen. Beides hatte die Frau nicht. Sie besaß nicht einmal genügend Kleingeld für den Bus in die nächste Kleinstadt. Das Dorf, in dem die Frau vor sich hin stirbt, liegt vielleicht zwanzig Kilometer von Guben entfernt, auf der polnischen Seite der Grenze.

Wir befinden uns mitten in Europa. An einer Grenze, die seit dem 1. Mai nicht mehr den Rand der Europäischen Union markiert, sondern ihre neue Mitte, die Nahtstelle zwischen altem und neuem Europa, Reich und Arm, Deutschen und Polen. So sieht man es in Berlin und Warschau. In Guben sagen sie: „Der Letzte macht das Licht aus.“

Vielleicht haben sie Recht. Vielleicht kann man nur mit dem nötigen Schuss Sarkasmus begreifen, was es mit dieser Stadt auf sich hat. Wie sie Mitte der Fünfzigerjahre, nachdem die DDR die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hatte, zum Zentrum der DDR-Chemiefaserproduktion ausgebaut wurde. Wie später dann Erich Honecker die 1854 von Carl Gottlob Wilke begründete Tradition der Hutmacher mit einem Pepitahut in der Hand um den Spruch erweiterte: „Gubener Hüte, bekannt für ihre Güte.“

Vielleicht begreift man dann besser, welche Hoffnung viele Gubener hatten, als 1972 die Grenze zu Polen geöffnet wurde und zum ersten Mal seit 1950 ein Besuch in Gubin möglich war, jenem Teil des Vorkriegsguben, in dem sich der historische Stadtkern samt Rathaus und Pfarrkirche befand. Wie diese Hoffnung in sich zusammensank, als die DDR-Oberen 1980 die „Friedensgrenze“ wieder schlossen, weil im „sozialistischen Bruderland“ Polen das Gespenst einer unabhängigen Gewerkschaft namens Solidarność umging.

Wie dann die Wende und die Freiheit kamen und die Arbeit verloren ging. Von den einst 8.000 Gubenern, die im Chemiefaserkombinat einen Job hatten, arbeiten heute nur noch 600. Von den 38.000 Menschen, die hier einmal lebten, haben 10.000 ihrer Stadt den Rücken gekehrt. Wer einmal die Nachwendegeschichte Gubens schreiben will, muss auch in Stuttgart, Hannover oder Hamburg recherchieren.

Vielleicht ist es aber auch ganz anders. 28.000, das sind schließlich nicht nur die 10.000, die weg sind. Es sind auch die 28.000, die geblieben sind. Vor allem im Sommer sieht man sie, da steht ihnen plötzlich eine Stadt zur Verfügung, in der ist viel Platz, mehr als im Westen je war. Im Sommer gehen sie auf Entdeckungsreise, die einen herausgeputzt, die anderen so wie immer, schauen sich um und vergewissern sich: Es gibt uns noch!

Diesen neuen öffentlichen Raum der Stadt findet man nicht so sehr in der Frankfurter Straße, der Einkaufsmeile, die geradewegs zur Grenzbrücke führt, als vielmehr in den Kleingärten am Neißeufer, auf den Dauercampingplätzen, zwischen den Ruinen der Textilfabriken. Es ist die Sommerstadt, die es plötzlich zu erleben gilt, und nichts deutet darauf hin, dass diese Sommerstadt einmal sterben könnte. Im Garten ist es nicht so einfach, das Licht auszumachen, vor allem wenn es bis in den Abend hell ist.

Draußen vor der Stadt ist es auch in Gubin lange hell. Auf der ehemaligen Theaterinsel, die nun Wyspa obronna – Schützeninsel – heißt, sitzen die Jugendlichen am Ufer. Sie lassen Steine auf dem Wasser tanzen, trinken billiges Warka-Bier, schauen auf die deutsche Seite, die ist nah und fern zugleich. Auch sie werden eines Tages weggehen, dorthin, wo es Arbeit gibt oder die nächste Universität, nach Zielona Góra, Poznań oder Berlin. Vorerst aber sind sie auf der Insel und genießen den Sommer. Was sollen sie auch sonst tun, in einer Gegend wie dieser. Selbst die Armee hat sich inzwischen aus dem Staub gemacht. Zu verteidigen gibt es in Gubin schon lange nichts mehr.

Ob die Menschen wissen, wie wenig sie sich da draußen vor ihren Städten voneinander unterscheiden? Dass sie dieselben stoischen Mienen aufsetzen, wenn sie vor ihre Tür treten, und dieselbe Haltung wahren? Der Campingplatz nahe Guben könnte auch auf der polnischen Seite liegen, der Badesee bei Gubin auf der deutschen. Sie wissen es wahrscheinlich, die Gubener und Gubiner, man kennt sich, vom Basar, den Tankstellen, von den Geschäften, über die man besser nicht spricht. Wer nichts zu verschenken hat, hat irgendwann nichts mehr zu verlieren, das spürt man, auch über die Grenze hinweg. Und doch. Sie würden es sich wohl nicht eingestehen.

Wer nichts mehr zu verlieren hat, hat auch keine Träume mehr. In Frankfurt und Słubice, in Görlitz und Zgorzelec, den anderen geteilten Städten an der deutsch-polnischen Grenze, da bauen sie mit aller Kraft am vereinten Europa und träumen davon, eines Tages wieder zu einer Stadt zu werden. In Guben und Gubin reicht die Kraft dazu nicht mehr. Versucht haben sie es, sie haben eine gemeinsame Kläranlage gebaut, einen Stadtentwicklungsplan ausgearbeitet, haben beschlossen, die Theaterinsel mit den Jugendlichen in die Mitte zu rücken. Eines Tages jedoch wollten die Gubener und Gubiner nicht mehr. Abgewählt haben sie die Europäer an der Spitze ihrer Rathäuser, sich für den eigenen Weg entschieden: den diesseits und den jenseits der Neiße.

Aber was heißt das schon. Nach dem nächsten Winter kommt wieder ein Sommer, und die, die dann noch da sind, werden wieder vor ihre Häuser treten. Europa wird dann noch weiter weg sein, der Weg über die Neiße aber vielleicht ein bisschen näher. Und so werden sie sich wieder treffen. Ich hoffe, werde ich der Freundin in Guben schreiben, nicht auf der Mülltonne.