Zweifel an antisemitischem Überfall

Wahr oder erfunden? Die Geschichte einer Frau über einen Angriff in einem Zug erschüttert Frankreich, doch die Polizei nimmt das Opfer wegen widersprüchlicher Aussagen fest. Die Zweifel ändern nichts daran, dass der Antisemitismus zunimmt

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Was genau ist am vergangenen Freitagvormittag in der Vorortbahn RER-D kurz vor Sarcelles im Nordwesten von Paris passiert? Bis Montagabend gab es dazu nur eine Erklärung, die ganz Frankreich empörte: Die 23-jährige Marie, die mit ihrem 13 Monate alten Kind im Zug saß, wurde von sechs jungen Männern, laut dem Opfer vier Nordafrikaner und zwei Schwarze, mit Messern bedroht und beraubt. Anschließend hätten die Angreifer sie als „dreckige Jüdin“ beschimpft, und dies bloß darum, weil sie aufgrund einer Wohnadresse im Personalausweis zum Schluss kamen, wenn sie aus einem so reichen Quartier komme, müsse sie bestimmt Jüdin sein.

In ihrem antisemitischen Hass hätten sie ihre Kleider aufgeschlitzt, die Haare abgeschnitten und mit Filzstift drei Hakenkreuze auf den Bauch gezeichnet. Niemand von den 20 Mitreisenden habe auch nur den kleinen Finger gerührt. Eine Beschreibung ihrer Angreifer konnte die Frau nicht liefern. Sie stand laut Informationen der Polizei noch unter Schock, als sie zum ersten Mal zu den Umständen des Überfalls vernommen wurde. Die Polizei sucht immer noch nach Augenzeugen.

Die öffentlichen Reaktionen auf diese antisemitische Aggression ließen nicht auf sich warten. Präsident Jacques Chirac, Premierminister Jean-Pierre Raffarin sowie Persönlichkeiten aller politischen und konfessionellen Lager protestierten und appellierten an die Zivilcourage der Franzosen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus.

Die Umstände des Überfalls, wie sie die Medien und die Presse schilderten, erschütterten die Nation. „Frankreich schämt sich“, lautete beispielsweise ein Titel in der Zeitung France-Soir. Diverse Experten äußerten sich zur Zunahme der rassistischen und vor allem antisemitischen Aggressionen seit Jahresbeginn. Noch am letzten Donnerstag hatte Präsident Chirac, besorgt über diese unheilvolle Entwicklung, die Bürger Frankreichs aufgefordert, geschlossen gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung vorzugehen.

Am Montag tauchten dann die ersten Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Marie auf. Der Fernsehsender LCI berichtete, gestützt auf Informationen aus Polizeikreisen, die 23-Jährige habe in den zurückliegenden Monaten nicht weniger als sechsmal Klagen wegen sexueller Belästigung und tätlicher Angriffe auf ihre Person eingereicht. Das Misstrauen wuchs, weil sich drei Tage nach dem Überfall kein einziger Zeuge gemeldet hatte, der die Version des Opfers bestätigen konnte. Auch gaben die Aufzeichnungen der Überwachungskameras im Bahnhof Sarcelles nichts her. Und Aussagen von Bekannten und Angehörigen in der Zeitung Le Figaro und auf dem Informationskanal LCI stellen sogar die Zurechnungsfähigkeit der jungen Frau in Frage. Gestern wurde sie von der Polizei wegen widersprüchlicher Aussagen in Gewahrsam genommen.

Nach drei Tagen der einhelligen Empörung und der Solidarität gegen den Antisemitismus wächst der Verdacht, dass die Geschichte der Nichtjüdin Marie, die Opfer einer Bande von antisemitischen Jugendlichen wurde, vielleicht ganz oder teilweise erfunden sein könnte. Das wäre nicht nur den Prominenten peinlich, die sich persönlich und öffentlich engagiert hatten, es könnte auch verheerende Folgen haben für den Kampf gegen den Rassismus in Frankreich, wenn künftig die Aussagen von Opfern nach diesem Präzedenzfall systematisch in Zweifel gezogen würden. Das wäre besonders verhängnisvoll, weil sich in den ersten sechs Monaten dieses Jahres die Zahl antisemitischer Aggressionen im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat. Genau aus diesem Grund klang Maries Version, falls sie nicht noch verifiziert werden kann, zumindest unheimlich plausibel.