Kinder an der Macht

Partizipation, erfahrbar für Sechsjährige: In Kinderstädten lernen junge Menschen die Grundzüge von Demokratie, Gemeinwesen und Steuersystem

VON JULIANE GRINGER

Bürgermeister Milan hat schon am zweiten Tag seiner Amtszeit zwei Gesetze erlassen. Am Freitag wird sein Posten neu besetzt, in nur fünf Tagen will er die Stadt „schöner machen“. Umweltschutz ist dem 12-Jährigen wichtig. Ab sofort wird deshalb jeder bestraft, der Müll auf die Straße wirft. Und die Kultur will Milan entschieden fördern: „Der Zirkus kriegt mehr Geld.“

Milan ist Bürgermeister in der Kinderstadt des Thalia Theaters in Halle an der Saale. Er wurde mit deutlicher Mehrheit gewählt. „Ich habe einfach alle meine Freunde überredet, für mich ihr Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen“, gesteht er, ohne mit der Wimper zu zucken. Stört auch niemanden. Hauptsache, er macht seinen Job gut. Sonst hagelt es Beschwerden. Die Taxifahrer waren schon sauer: Die Straßen sind ihnen zu lang. Milan läuft durch diese langen Straßen seiner Stadt, die wirklich eine ist. Mit Häusern, Einwohnermeldeamt, Zoo, Shops, Garten, Manufaktur, Restaurant, Krankenhaus, Radio, Fernsehen und Zeitung. Die meisten Bürger sind unter vierzehn.

Auf 6.600 Quadratmetern spielen Kinder fünf Wochen lang „erwachsen sein“. Gesetzesvorschläge wie „Himbeereis für alle“ oder „Ferien sofort“ sind aber noch nie diskutiert worden. Der Nachwuchs nimmt es ziemlich ernst. „Für die Kinder selbst ist Spielen ja Ernst, es ist schließlich ihr Lebensinhalt“, meint Heiko Kastner, Pädagoge und Projektmitarbeiter beim Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung in Halle. Er hat selbst mal eine kleine Kinderstadt in einer Schule veranstaltet und später Seminare zum Thema gegeben. Ursprünglich seien die Städte nur als Feriengestaltung gedacht gewesen, von Eltern initiiert. „Sie sollen das Große im Kleinen erlebbar machen“, so Kastner. „Kinder erfahren ja immer weniger Gesellschaft, deren große Zusammenhänge sind für sie viel zu komplex. Meistens wissen sie gerade noch, welcher Arbeit ihre Eltern nachgehen. Im Spiel können sie nachahmen und reale Erlebnisse verarbeiten.“ In der Kinderstadt wird den Kleinen schnell klar, wie es „später“ läuft: Als Bürger sollte man sich eine Arbeit suchen, Geld verdienen, Steuern zahlen, zur Wahl gehen. Fortgeschrittene machen selbst Politik – Partizipation, erfahrbar für Sechsjährige.

Bankraub und Korruption

Bürgermeister Milan stört, dass „sich in Deutschland manche Leute einfach viel zu viel Geld in ihre Taschen stecken“. Davon hat er in den Nachrichten gehört, die er „schon öfter mal“ im Fernsehen ansieht. So doppelt sich die große Realität im Kleinen: Die Slogans im Wahlkampf hießen „Die Kinderstadt soll sicherer werden“, „Mehr Spielplätze und noch mehr Gerechtigkeit“ oder „Weniger Steuern!“. Ein ehemaliger Bürgermeister hat das mal ausprobiert mit den niedrigeren Steuern und gleichzeitig noch mehr Lohn. Ging nicht lange gut. Der Stadtschatz war schnell aufgebraucht.

„Kinderstädte sind weit mehr als ein Spiel“, sagt Dagmar Kraska vom Verein „Kultur & Spielraum“ in München, der mit „Mini-München“ vor 25 Jahren die erste deutsche Kinderstadt schuf. Die Stadt sei vielmehr ein Ort, an dem Kinder lernen – durch ihr eigenes Tun und mit deutlich mehr Spaß als in der Schule. „Weil sie hier ernst genommen werden und sich selbst ernst nehmen.“ Es geht ziemlich „echt“ zu in den kleinen Städten. Probleme: Bankräuber, korrupte Politiker, leere Kassen. Die lösen die kleinen Leute alle selbst. Sie probieren einfach aus, was hilft.

Die Spielregeln diktieren Demokratie – mit Wahlen, Stadtrat und Bürgermeister. Überlegungen, die Stadt den Kindern ganz „roh“ vorzusetzen und somit etwa eine Selbstverwaltung zu provozieren, scheiterten in München am Organisatorischen: Über 30.000 Kinder und Jugendliche wirken aktiv an drei Wochen Mini-Stadt mit. „Hier wird nichts inszeniert“, sagt Dagmar Kraska. „Die Kinder leben das Stadtleben voll aus. Sie faulenzen nicht, sondern stehen Schlange am Arbeitsamt.“

Auch in der halleschen Kinderstadt ist das so. Und binnen Minuten arbeiten sich die Juniorbewohner dort in neue Jobs ein – macht der alte keinen Spaß mehr, kündigt man einfach. Bezahlte Arbeit gibt es in dieser Kinderstadt genug: Sind die Jobs vergeben, werden neue erfunden. Ausrufer im Filmpalast kann man werden, Fundsachensucher, Malmeister, Tätowierer oder Undercoverspion, beim Kurierdienst namens „Päckchen lenken“ anheuern oder selbst bei der Jobbörse die Berufe verteilen. Es gibt Einheitslohn. Die Währung der Kinderstadt heißt Hallörchen, sechs davon gibt es pro Stunde Arbeit, eins wird gleich für die Steuer abgezogen. Ausgeben kann man den Lohn im „C&C-Shop“, im Restaurant „Leker Schmeker“ oder im Zirkus.

Besuch nur mit Visum

Erwachsene dürfen sich nur mit einem Visum und in Begleitung eines Juniorstadtführers durch das Gelände leiten lassen. Mitspielen ist nicht. Und: „Wer von den Großen frech wird, fliegt raus“, stellt Stephanie Herzmann,12, von der Jobvermittlung, nebenberuflich Stadtführerin, unmissverständlich klar. Sie hat da schlechte Erfahrungen gemacht. „Einer Mutter war mal die Radiomusik zu laut, und sie hat sich beim Sender beschwert“, berichtet Stephanie. „Sie hat sich dann noch zwei solche Sachen geleistet. Also musste sie gehen.“ Das Zuwanderungsproblem hat die Kinderstadt im Griff.

Gibt es Ärger – mit Eltern oder mit Bankräubern –, kommen Detektive zum Einsatz. Die ersetzen die Polizei in der Stadt. In der Berliner FEZitty, einem ähnlichen Kinderstadtprojekt, kam erst mit Einführung einer Polizei die Kriminalität in die Stadt. Banküberfälle sind in Halles Juniorstadt ein großes Problem. Detektiv Kevin: „Da geht man nur mal kurz um die Ecke aufs Klo, schon ist das Geld weg.“ Meist klärt sich schnell auf, wer es war. Immer öfter aber kommen auch Unterschlagung und Betrug vor – Bankmitarbeiter stecken sich oft einfach ein paar Hallörchen in die eigene Tasche.

Die Münchner Kinderstadt-Idee wurde zum Vorbild. Mittlerweile hat Heidelberg sein „Heidel-York“, Berlin die „FEZitty Wuhlheide“, in anderen Städten gibt es Juniorgemeinden, auch in Dänemark, Österreich, der Schweiz und Italien. In Halle werden die Kinder schon im Vorfeld in die Stadtplanung einbezogen. In den Wochen und Monaten vor der Eröffnung tagt regelmäßig ein Kinderrat, der vor allem aus ehemaligen „Bewohnern“ besteht. Nun trifft sich der Stadtrat jeden Tag – wenn sich genug Mitglieder gefunden haben.

Rund ums Rathaus treiben sich auffällig viele Jungs herum. Milan hat mit Gleichberechtigung kein Problem. „Die Mädchen müssen nur selber kommen“, meint er. Die haben sich aber den Schönheitssalon als liebsten Arbeitsplatz ausgewählt. Dort dreht Farina gerade Freundin Nina Locken ins Haar. Parfümeurin Friedericke mäkelt rum. „Das ist ein doofer Job, es stinkt, ich hör hier auf“, schimpft sie. „Ich mache einen richtigen Job. Ich gehe zur Bank.“

Wer ein paar Stunden in der Stadt gearbeitet hat, wird vom „Sallunken“ zum „Sallenser“ und kann dann ein Gewerbe anmelden. Firmengründungen sind eine beliebte Sache. An der Hauptstraße wird gerade an einem Juwelierladen gehämmert, der C&C-Shop bekam schon öfter Konkurrenz von anderen Läden, die auch Limonade oder die selbst gebastelten Taschen aus der Manufaktur verkaufen. Die Preise bestimmen die Angestellten selbst, manchmal jeden Tag neu. „Aber wenn die Flasche Wasser fünf Hallörchen kostet, kauft die doch keiner“, meint Jenny, sieben Jahre alt. Freie Marktwirtschaft also? Jenny schaut irritiert und nickt dann einfach. Ein Job im Einzelhandel ist beliebt, genau wie die Arbeit im Zoo. Weniger populäre Tätigkeiten haben dann manchmal Nachwuchsmangel, und die Berufeverteiler müssen Überzeugungsarbeit leisten. Werden Müllmänner gebraucht, überredet Stephanie Herzmann von der Jobbörse Unentschlossene schon mal. „Müllmänner sind total wichtig, ein toller Beruf, werde doch Müllmann!“, schwärmt sie dann, und der Beratene zieht zufrieden ab.

Einheitslohn abschaffen?

Und dass Müllmänner wirklich total wichtig sind, das denkt auch Stadtoberhaupt Milan. Ihm gefällt gar nicht, dass es einen Einheitslohn gibt. „So ein Bankdirektor, der könnte in Zukunft ja vielleicht weiter sechs Hallörchen verdienen. Bankdirektor ist ein wichtiger Job“, überlegt Milan laut. „In der Jobbörse gäbe es dann aber nur vier Hallörchen, genauso bei der Müllabfuhr. Obwohl, nein, Müllmänner und Müllfrauen machen einen wichtigen Job. Die sollen auch sechs Hallörchen bekommen.“ In der Kinderstadt wird Politik noch mit Herz und Verstand gemacht.