Furcht vor der Trägheit der Materie

Frühe Filmtheorie, neu aufgelegt: Bei Suhrkamp sind Textsammlungen von Rudolf Arnheim und Siegfried Kracauer erschienen. Während für Kracauer die sozialen Absichten eines Films im Vordergrund stehen, kümmert sich Arnheim – er feiert heute seinen 100. Geburtstag – um die Gestaltung des Bildes

Für Kracauer muss ein Filmkritiker auch Gesellschaftskritiker sein

VON JÖRG BECKER

Zu der Zeit, als Rudolf Arnheim Beiträge zu einer Stummfilmtheorie publizierte, war dem Gegenstand seiner Untersuchung bereits der Boden entzogen. Die Umstellung auf Tonfilm hatte in Deutschland um 1930 zu einer Konjunktur der Operettenfilme, der Militärlustspiele und Klamaukproduktionen geführt. Vor allem die Ufa bediente das Bedürfnis nach Realitätsflucht von Millionen in der Endphase der Weimarer Republik.

Dies desillusionierte Arnheim, dessen medientheoretische Schriften „Die Seele in der Silberschicht“ jetzt bei Suhrkamp neu aufgelegt wurden. Wo der Film die neue Technik des Tons zu nutzen gezwungen war, musste er andere, interessantere Entwicklungsmöglichkeiten auslassen.

Der Gestaltpsychologe Arnheim, der heute in Ann Arbor, Michigan, lebt, nahm das Kino als bildende Kunst ernst; sein Buch „Film als Kunst“ (1932) ist eine nach wie vor unübertroffene Einstiegslektüre in Material und Technik des Films. Gegenüber der „Tyrannei der Vergnügungsindustrie“ stand er bald auf einsamem Außenposten; für ihn kam der Sprech- oder Dialogfilm über sein Zwitterdasein nicht hinaus, da seine ästhetischen Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt blieben. Das Akustische vervollkommne die Illusion, so Arnheim, Ton bestärke den Wahn, Wirklichkeit zu reproduzieren, was dem Film etwas von der Trägheit der Materie einbringe. Dagegen blieben Arnheim allein solch bedeutende Ausnahmeerscheinungen wie die Montagekunst der Russenfilme, die cineastische Ausschweifung eines Erich von Stroheim oder die Traumsymbolik der Surrealisten als Vorbilder übrig.

Der junge Autor, der bei Wolfgang Köhler und Kurt Lewin am Berliner Psychologischen Institut studiert und bei dem Gestalttheoretiker Max Wertheimer mit einer experimentalpsychologischen Arbeit zur Ausdruckswahrnehmung promoviert hatte, mischte sich früh in die Fotografie-Debatte ein, schrieb Filmkritiken und wurde Redakteur bei Kurt Tucholskys Weltbühne. Der Ausgangspunkt seiner Filmbildbetrachtung lag bei der bildgenerierenden Maschine. Filmbilder sollten präzise konzipiert und gestaltet sein; schließlich hatte der Gestaltpsychologe, der mit empirischem Sehraum, mit Wahrnehmungsfragen umzugehen gewohnt war, nicht viel übrig für die Inhaltsbezogenheit der zeitgenössischen Filmkritik, die einen geisteswissenschaftlich interpretierenden Zugang wählte. All diese Aspekte lassen den Stummfilmverfechter heute wieder modern erscheinen.

Ein Drittel der fast siebzig Aufsätze in „Die Seele in der Silberschicht“ besteht aus Erstübersetzungen und Nachdrucken schwer zugänglicher Vorkriegstexte. Auch Arnheims Schriften zu der geplanten großen, vom Völkerbund finanzierten „Enciclopedia del Cinema“, deren Herausgeber er ab 1933 in Italien war, deren Erscheinen aber 1938 durch den Austritt Italiens aus dem Völkerbund verhindert wurde, sind darin enthalten, ebenso Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung, seiner letzten deutschsprachigen Publikationsmöglichkeit nach 1933.

Wahrhaft „Ein Blick in die Ferne“ ist Arnheims 1935 verfasste kritische Einschätzung des Fernsehmediums. Ein Jahr darauf wurden die Wettkämpfe der NS-Olympiade in Fernsehstuben auf Berliner Postämtern ausgestrahlt. Arnheim hielt das Fernsehen zunächst für einen reinen Übertragungskanal, ein „Verkehrsmittel des Geistes“, doch prognostizierte er auch die Gefahr der Uniformierung des Gebotenen, einer Monopolisierung des geistigen Lebens. Er sah ein Übermaß an Anschauung bei wachsender individueller Vereinsamung auf den Betrachter zukommen. „Die Sinne sind nur dann nützlich, wenn man sie nicht überschätzt.“

Mitunter hört man aus Arnheims Prognostik die Stimme eines konservativen Reformpädagogen heraus, der vor einer kultur- und sittenwidrigen Zerstreuungsflut, einem „Anschauungskult“ ohne Begriff warnt: „Je komfortabler unsere Anschauungsmittel werden, umso mehr befestigt sich die gefährliche Illusion, dass Sehen schon Erkennen sei. Das Fernsehen ist eine neue, ernste Prüfung des menschlichen Geistes: Gelingt es ihm, das neue Mittel zu durchdringen, es zu seinem Werkzeug zu machen, so wird er bedeutende Bereicherung erfahren. Aber es kann ihn auch einwiegen, außer Kurs setzen […]. Wer beschreiben will, muss aus dem Besonderen das Allgemeine ziehen, Begriffe bilden, vergleichen, muss denken. Wo aber bloß mit dem Finger gezeigt zu werden braucht, da verstummt der Mund, da hält die schreibende, zeichnende Hand ein, da verkümmert der Geist.“

Fotografie, Film und Rundfunk fasste Arnheim als „reproduktive Künste“ zusammen, er entwarf eine „Materialästhetik“. So behauptet seine Studie „Neuer Laokoon“ (1938), seine zentrale Filmpoetik, entworfen frei nach Lessings kanonischem Aufsatz „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“, den Vorrang des Visuellen vor der Rede im Film. Arnheims Blick war auf Kamerainszenierung und Montage gerichtet, Techniken, denen gegenüber jedes aufgenommene Objekt grundsätzlich gleichrangig ist. Doch die Erfahrungen im US-amerikanischen Exil, die Standardisierung der Studioproduktionen in Hollywood mit den immergleichen gängigen story lines und den Erregungskurven aus Selbstzweck führten den Gestaltpsychologen weg vom Film auf das Gebiet der bildenden Kunst. Seit den Sechzigerjahren sind auf Deutsch erschienen: „Kunst und Sehen“, „Picassos Guernica“, „Anschauliches Denken“, „Zur Psychologie der Kunst“, „Die Macht der Mitte. Eine Kompositionslehre für die bildende Kunst“.

Arnheim hat die Grenzen und Mängel der Abbildung durch den Filmapparat, also die Wahl der Einstellung, die Projektion in die Fläche, den Bildrahmen als Grenze, stets als die ästhetischen Voraussetzungen der Kunst, als seine eigentlichen, qualitativen Vorzüge begriffen, die es auszuprägen gelte. Sein zeitlich letzter Text von 1999, „Die Verkoppelung der Medien“, in dem er noch einmal auf das gestaltpsychologische Zusammenwirken eines hierarchisch strukturierten Filmganzen zurückkommt, überblickt einen Zeitraum von 74 Jahren medientheoretischer Reflexion.

Entgegen Arnheims Blick auf Formen und Oberflächen aller Körper und Dinge im Bild hat der Filmkritiker und Soziologe Siegfried Kracauer (1889–1966) ideologiekritisch Aufklärung betrieben und den Subtext der Massenware Film enthüllt. Die beiden wohl bedeutendsten deutschen Filmtheoretiker der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, Arnheim und Kracauer, wurden 1933 zur Emigration gezwungen, landeten Anfang der 1940er-Jahre in den Vereinigten Staaten, wo sie fachlich-freundschaftlichen Kontakt hielten.

Arnheims Blick ist auf Kamerainszenierung und Montage gerichtet

Mit dem Erscheinen von Kracauers sämtlichen Filmkritiken als „Kleine Schriften zum Film 1921–1961“ hat der Suhrkamp Verlag nun eine neunbändige Kracauer-Werkausgabe begonnen, deren Hauptgewicht auf der außerordentlich produktiven Phase des Autors als Redakteur der Frankfurter Zeitung (1921–1933) liegt. Allein 500 Besprechungen schrieb er zwischen 1921 und 1930. Bei ihrer Lektüre durchquert man mit cineastischer Lust ebenso wie mit kulturhistorischer Neugier einen „versunkenen Kontinent“, an dessen Kartografie Kracauer zeitlebens gearbeitet hat – zwischen den Koordinaten Abenteuer und Exotik, Kriminal- und Detektivgenre, Groteske und Kulturfilm, Verwechslungskomödie und Straßenfilm, Historiengemälde, Revolutionsepos und Bergfilm. Die Gebrauchstexte eines Liebhabers des Films und Sammlers einzigartiger Eindrücke sind am besten mit unsystematisch schweifender Lust zu durchstöbern, auf der Suche nach der besonderen Geste, einer Szene, einem Charakter oder einem Tableau, wie der Autor selbst, bevor er sie einfing und aufschrieb. Walter Benjamin fand dafür ein Baudelaire’sches Bild und verglich Kracauer mit einem „Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht“.

Man gewinnt einen Eindruck davon, wie Kracauer im Geschäft des Tagesjournalismus allmählich einen umfangreichen Material- und Erfahrungsfundus angehäuft hat für seine späteren großen Analysen – vor allem für die Filmgeschichte „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ (die Erstausgabe erschien 1947 in den USA). Der Fluchtpunkt der im amerikanischen Exil verfassten Studie war in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre für den unermüdlichen Rezensenten, der die Durchschnittsware Film verarbeitete, noch nicht absehbar, doch die „deutsche Filmproduktion“ sei „auf den Hund, das heißt auf ‚Metropolis‘ “ gekommen. Das stand für Kracauer bereits nach der Uraufführung jenes Films Anfang 1927 fest. Die Rechtswende der Frankfurter Zeitung nach dem erzwungenen Aktienverkauf an eine Finanzgesellschaft der IG Farben 1931 brachte Kracauer existenzbedrohende Gehaltskürzungen, Zensurbeschränkungen und schließlich die Kündigung des „Juden und Linksmanns“ (Kracauer).

1932 formulierte er noch einmal seinen Standpunkt mit seltener materialistischer Klarheit: „Der Film ist innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft eine Ware wie andere Waren auch. Er wird – von wenigen Outsidern abgesehen – nicht im Interesse der Kunst oder der Aufklärung der Massen produziert, sondern um des Nutzens willen, den er abzuwerfen verspricht. […] Je ärmer die meisten Operettenfilme, Militärfilme, Lustspielfilme usw. an Gehalten sind, die einer strengen ästhetischen Beurteilung standzuhalten vermögen, desto mehr fällt ihre soziale Bedeutung ins Gewicht, die gar nicht überschätzt werden kann.“

Die Aufgabe des Kritikers liegt für Kracauer daher darin, „jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen. […] Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.“ Im Abgleich von Schein und Wirklichkeit macht Kracauer die Gespenster durchschaubar, die sich an unser Leben heften.

Rudolf Arnheim: „Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk“. Hrsg. v. Helmut H. Diederichs. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, 433 Seiten, 15 €ĽSiegfried Kracauer: „Kleine Schriften zum Film“ (Werke in 9 Bänden, Bd. 6). Hrsg. v. Inka Mülder-Bach. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, drei Teilbände, zus. 1.676 Seiten mit zahlr. S/W-Abb.; Leinen: 112 €, kartoniert: 95 €