Schlafen gegen Hartz IV

ln Säcken lagen Mitglieder des Sozialforums in der Bochumer City. So protestierten sie gegen die befürchtete Abwicklung des Sozialstaats

Mit dem Gang zum Schlafsack begann in der Bochumer City eine Art Rollenspiel

VON PETER ORTMANN

Samstagmittag in der Bochumer Fußgängerzone: Beinahe wäre die ältere Dame über den Schlafsack gestolpert. Sie erschrickt. Nur eine Hand reckt sich aus dem Oberteil des braunen Camping-Utensils. Verwirrt schüttelt sie den Kopf, eilt mit ihren Einkaufstaschen hastig weiter, ein Flugblatt lehnt sie ab. Was soll das schon sein?

Direkt vor dem ehemaligen Konsumtempel Kortum demonstrierte das Bochumer Sozialforum am Samstag gegen die Abwicklung des Sozialstaats – mit einem lange nicht mehr gesehenem Sleep In. Damit sollte darauf aufmerksam gemacht werden, was passiert wenn am 1. Januar das neue Sozialgestzbuch II, besser bekannt als Hartz IV, in Kraft tritt. Dann würden allein in Bochum von einem auf den anderen Tag 10.000 Langzeitarbeitslose zu Sozialhilfe-Empfängern. Die Kosten für ihre Wohnungen werden dann nur noch übernommen, „soweit diese angemessen sind“, mit der Folge, dass in der möglichen Kulturhauptstadt Europas Arbeitslosenghettos in Billigwohngegenden entstehen würden. Deshalb probiert Stefan Nölle, ehemaliger Regieassistent am Bochumer Schauspielhaus, schon mal den Bodenbelag der Einkaufsstrasse aus. „Eigentlich wollten wir ja auf den Husemann-Platz, doch da hatten die Sozialdemokraten schon ihr Familienfest geplant“, sagt er und legt seinen Kopf auf das Transparent vom letzten Jahr. „SPD-Eurofighter statt Zahnersatz“ steht da drauf. Das hätte vor einem Jahr die Genossen an ihrer zentralen Bühne zum Schäumen gebracht und sei immer noch gut zu gebrauchen.

Am Samstag regte sich dort niemand auf. Ziemlich verödet seien in diesem Jahr die Stände der Ortsvereine gewesen. Selbst ein Interview mit Bürgermeisterin Gabriela Schäfer (SPD) habe keine Zuschauer gefunden, sagt Nölle „Also haben sie uns auch eher ignoriert“. Er lacht und schlendert zurück zu den 15 besetzten Schlafsäcken, die nun in Reih und Glied einen Teil des Pflasters sperren. Gerade werden da die Stimmbänder malträtiert, Strom für die Sprechanlage gibt es von den Genossen nicht. „Geht doch arbeiten“ ruft ein Passant aus der Menge. „Gerne“ schallt es postwendend zurück. Er geht schnell weiter und bleibt an diesem Tag eine Ausnahme.

„Es gibt einen Riesen-Beratungsbedarf“, sagen auch die Frauen von der Bochumer Courage Gruppe, deren Transparent die 30 Stunden Woche – bei vollem Lohnausgleich fordert. Daneben demonstriert der Bochumer Mieterbund. Hier sieht man hohe Kosten auf die Stadt zukommen, denn nach derzeitigem Stand müssen die Wohnkosten der ALG II-BezieherInnen komplett von den Kommunen bezahlt werden. Der Städtetag rechnet mit einer Belastung in Höhe von 11 Millarden Euro. Vor allem in Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit führe die Reform keineswegs zu einer Entlastung der städtischen Haushalte. Deshalb würden die Kommunen in Zukunft den Druck auf die sozial Schwachen erhöhen, um deren Wohnkosten möglichst gering zu halten.

Am frühen Nachmittag ist das Fernsehteam am Stand des Sozialforums wieder abgezogen, rund 1.000 Flugblätter wurden an die Passanten verteilt, die Schlafsäcke sind wieder eingerollt. „Die Aktion war ein voller Erfolg“, sagt Stefan Nölle. Übrig bleiben die bunten Stände des jährlichen SPD-Familientages, an denen irgendwie desillusionierte Parteimitglieder ihren Prosecco für 1,80 Euro selber trinken müssen.