Ein Staat in greifbarer Ferne

Aufatmen nach langem Luftanhalten. In Ramallah überrascht der Aufstand gegen Jassir Arafat nur wenige. In ihm regt sich die Wut der Palästinenser über dessen korruptes Regime. Eindrücke vom Rande des ersten Internationalen Filmfestivals

VON ALIA RAYYAN

„Denice“ brutzelt auf dem Grill und hüllt uns ein in wohlriechenden Rauch, während wir über einen Anruf mitbekommen, dass eventuell der Regierungssitz von Jassir Arafat angegriffen wird – nicht von der israelischen Armee, wie vor einigen Wochen noch angedroht, sondern von der Fatah nahe stehenden Al-Aksa-Brigaden, die bereits in Gaza das Hauptquartier der Sicherheitskräfte angegriffen haben. Jungs mit Kapuzen über dem Kopf und Maschinengewehr im Anschlag, die wie schlechte Imitate irakischer Entführer wirken. Neuer Stoff für Antiterrorkrieger und Hardliner, die die Bilder aus Gaza ihrer Agenda gemäß interpretieren werden. Zurück zum Fisch.

Wir, das ist eine Gruppe von zehn Leuten – Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten –, die sich abends zum Grillen verabredet hat, in Tire, einem Außenbezirk von Ramallah, von dem man aus nicht viel mitbekommen kann, geschweige denn überprüfen, ob diese Information stimmt. Auf der Suche nach einer Auszeit: Chill-out in Ramallah. Denice gewinnt über Arafat und erhält unsere gesamte Aufmerksamkeit. Der Fisch mit dem wunderschönen Namen – eine Spezialität aus Gaza.

Gaza spricht und wackelt derweil an den schläfrigen Mauern von Ramallah. Ist das das lang ersehnte Aufwachen aus der Apathie? Der Aussichtslosigkeit? „Das hätte schon vor Jahren geschehen müssen. Es scheint ein Dilemma der Palästinenser zu sein, immer Jahre nachzuhängen“, sagt einer. Etwas zugespitzt, aber grundsätzlich nicht ganz falsch. Kaum jemand hat vergessen, dass die Anfänge der zweiten so genannten Intifada nicht nur gegen die israelische Übermacht gerichtet waren, sondern auch wegen der Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung ausbrach. Kurz vor dem Ausbruch der zweiten Intifada war diese Unzufriedenheit bereits deutlich zu spüren – der Ausbruch der Straße lag in der Luft, lag bereits im Gang der Jugendlichen, die am Manara-Platz herumhingen, arbeitslos und um eine weitere Hoffnung beraubt.

Ähnlich kann man die Situation auch heute beschreiben. Ähnlich, aber auch um eine Nuance grundsätzlicher, da sich die Wut deutlicher denn je gegen die eigene Regierung richtet. Kaum jemand ist über die Attacken verwundert oder erstaunt. Nur die Methode der Aufständischen macht Sorge, wenn auch nicht allen. Birgt die Vorgehensweise, Veränderungen zu erpressen und sich das Recht zu nehmen, die Gefahr eines Flächenbrandes, der völligen Rechtlosigkeit und Gewalt? Ist sie nur logische Konsequenz einer Lebenssituation, die bereits eine völlige Rechtlosigkeit beinhaltet, und daher quasi der Ausdruck einer gelebten Situation ist? Einer von Korruption und Machtschiebereien gebeutelten Gesellschaft?

Trotz offener Fragen und Unsicherheiten macht der Aufstand in Gaza auch Mut – ein Aufatmen nach langem Luftanhalten – eine Erleichterung, da die Bevölkerung sich mündiger erweist als gedacht und gegen die Schachereien aufbegehrt. Arafat hat schon einmal die palästinensische Bevölkerung unterschätzt – und tut dies wieder. Wie war sonst die Berufung seines Neffen Mussa Arafat zu erklären? Glaubte er wirklich, dass sich die Leute, die jahrelange Erfahrung in zivilem Ungehorsam gegen Israel sammeln konnten, sich von einer Regierungselite regieren lassen, die ihre Unfähigkeit zur Genüge bewiesen hat?

Der Angriff auf die Muqata’a hat sich als Fehlmeldung herausgestellt. Die ernsten Gespräche werden von sarkastischen Witzen durchbrochen – Ara und Bier machen die Runde. Ramallah scheint noch fern von der Unruhe in Gaza zu sein. Noch. Doch der Funken kann auch auf den Ort überspringen, der versucht, sich und seinen Bewohnern zu beweisen, dass er die Hauptstadt eines Staates ist, dessen Existenz in greifbarer Ferne liegt.

Fährt man durch das heutige Ramallah, sieht man auf den ersten Blick alle Einrichtungen, die man von einer Kleinstadt erwartet – Schulen, Rathäuser, Institutionen, Vertretungen, Stadtgärten. Der Wiederaufbau nach der Invasion der israelischen Armee hat ganze Arbeit geleistet – blühende Straßenbepflanzungen, neue asphaltierte Straßenzüge, Ampeln und Bordsteine glätten die Wunden der letzten zwei Jahre. Die Realität holt einen schnell ein. Auf dem Weg nach Jerusalem, Bethlehem oder Jericho, nachts, wenn Leuchtraketen den Himmel erhellen und Schüsse fallen, oder abends, wenn Freunde bereits um neun Uhr aufbrechen müssen, um rechtzeitig am Checkpoint Kalandia durchzukommen, bevor dieser um zehn geschlossen wird und man aus Ramallah nicht mehr herauskommt. Das Machtspiel ist klar. Die Idee eines palästinensischen Staates wird weitergetragen, während die Regionen und Städte in Einzelteile zerfallen – statt föderalem Staat ein fragmentierter.

Über diesen Zustand konnte auch das erste Internationale Filmfestival Ramallah nicht hinweg täuschen. Sechs Tage lang wurden 80 Filme aus 12 Ländern gezeigt, und jeden Tag schauten sich ungefähr 800 bis 1.000 Menschen diese Filme an. Eröffnet wurde mit den „Motorcycle Diaries“ von Walter Salles, der auf den Tagebüchern von Che Guevara basiert und dessen Motorradfahrt als Jugendlicher durch Südamerika nachzeichnet. Presse aus der ganzen Welt berichtete über das Spektakel, dessen Haupterfolg die Durchführung unter diesen Umständen war – die Organisation und technische Umsetzung leider weniger. Trotz internationaler Filme und Medienrummel blieb das Festival jedoch ein lokales, ohne dabei auf die Bedürfnisse der Bewohner einzugehen. Eine merkwürdige Mischung aus internationalem Anspruch und lokaler Reichweite. Selten waren Palästinenser aus Jerusalem zu sehen, geschweige den aus Bethlehem, Nablus oder gar Gaza.

Ramallah glänzt und entpuppt sich immer stärker als kulturelles und künstlerische Zentrum eines an Science-Fiction gemahnenden palästinensischen Staates. Als wir spät am Abend aufbrechen, kommen wir am Regierungssitz Arafats vorbei, der ruhig und still daliegt – keine Aufständischen, keine Kämpfe. Abwarten.