Am Kanal spielt die Musik

Einst empfing der Rastafarianismus-Begründer Marcus Garvey in Panama seine ersten spirituellen Lektionen. Hundert Jahre später boomt die dortige Reggae-Szene, vor allem im Armenviertel Colón. Mit La Plena hat sich aus der Calypso-Tradition heraus eine eigene Reggae-Variante entwickelt

„Schau dir an, wer hinten in den Polizeiwagen sitzt. Da wirst du keinen Weißen finden. Nur Schwarze“, sagt Kafu Banton

VON CHRISTOPH TWICKEL

Rasta Nini steht am Spielfeldrand und feuert sein Team an, die Dreadlocks reichen ihm bis an die Knöchel. Die meisten der jungen Afro-Panamesen, die dort auf dem staubigen Bolzplatz außerhalb von Colón kicken, sind Reggae-Musiker. Rasta Nini ist nicht ihr Trainer, aber ihr Mentor. Er war der erste Rasta in Panama, 1974 hat er aus den USA zwei Bob-Marley-LPs mitgebracht: „Catch a Fire“ und „Babylon by Bus“, die hat er im Radio gespielt, und es hat den Leuten gefallen. So, sagt er, sei der Reggae nach Panama gekommen.

Der Bob Marley von Colón steht auf dem Platz: Kafu Banton, einer der begabtesten Reggae-Artists des Landes, ist ein Beißer, einer der sich durchtankt, der Ball klebt ihm am Schuh. Eigentlich ist Baseball der nationale Sport in Panama, doch an der Karibikmündung des Kanals gehen die Uhren anders. Hier ist man weit weg von den Bankentürmen in Panama City. Die Freihandelszone von Colón, die zweitgrößte der Welt, und das angeschlossene Villenviertel sind von meterhohen Mauern umgeben. Außerhalb dieser Mauern ist der Alltag ein Kampf an allen Fronten.

„Bleib an der Station, bis ich dich holen komme!“ hatte Rasta Nini gesagt. „Geh da auf keinen Fall weg.“ Zwanzig Minuten Wartezeit im Busbahnhof reichen, um festzustellen, dass die Mülleimer von Colón zu den meistdurchwühlten der Welt gehören. Rasta Nini ist Mitbegründer einer Bürgerinitiative, die von Unternehmen Spenden für öffentliche Arbeiten sammelt, 8.000 Dollar hat sie anlässlich des hundertjährigen Staatsjubiläums im letzten November zusammengekratzt. „Die zirkulieren jetzt“, sagt Nini und kauft einem Straßenhändler in der „Calle Kingston“ ein paar Pfefferminzdrops ab. Einen regulären Job hat hier so gut wie niemand.

„Wenn du Zeit hast,“ sagt Kafu Banton, „schau dir an, wer hinten in den Polizeiwagen fährt. Du wirst dort keinen Weißen finden. Sie nehmen nur Schwarze mit. Dabei stehen die nur so an der Ecke herum.“ Kafu sitzt auf dem Sofa in Rasta Ninis Wohnung in der berüchtigten Calle 9, noch im Fußballtrikot. Anfang der Achtziger hat Rasta Nini hier die erste panamesische Reggae-Produktion aufgenommen, die A-Seite auf Patois, die B-Seite auf Spanisch, Cheb hieß die Band, Supah Nandy der Sänger. Im letzten Jahr stürzte Ninis Wohnzimmerdecke ein, der Balkon ist schon vor längerer Zeit abgefallen.

Man sieht den Häusern ihre einstige Grandezza noch an, Anfang des 20. Jahrhundert haben hier die US-Angestellten der Panama Railroad Company gewohnt. Heute quetschen sich dutzende von Familien in die maroden Kolonialhäuser. „Vivo en el Ghetto“ heißt Kafu Bantons aktueller Hit, „Ich lebe im Ghetto“ – und davon handelt er auch. „Es gibt keine Arbeit“, sagt Kafu. „Drei Viertel der Angestellten in der Freihandelszone kommen aus Panama City. Und es liegt nicht daran, dass wir es nicht können. Das Problem gibt es seit hundert Jahren!“

Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich zehntausende von Afro-Antillanern nach Panama verschiffen, um für die französische Kanalbaugesellschaft eine Schneise in den Regenwald zwischen Pazifik und Karibik zu schlagen. Unter den mörderischen Arbeitsbedingungen am Isthmus starben die Arbeiter aus Trinidad, Tobago, Barbados oder Jamaica wie die Fliegen. Bis zum Abbruch der französischen Kanalarbeiten hatten Malaria, Gelbfieber, Hitze und Sprengunfälle rund 20.000 Menschenleben gefordert. Während der Vollendung des Panamakanals unter US-amerikanischem Kommando waren es noch mal rund zehntausend. Auch Marcus Garvey, Begründer des Rastafarianismus, verschlug es Anfang des 20. Jahrhunderts nach Panama. Als junger Journalist und Gewerkschafter, sagt Rasta Nini, habe Garvey seine spirituellen Lehrer wie Freddie Douglas kennen gelernt. Sie prophezeiten ihm, aus dem Osten würde ein schwarzer Imperator namens Haile Selassie I. kommen, um die schwarze Rasse von ihren Leiden zu befreien. Panama, die Provinz Colón, sei das „Mutterland des Rasta, der Rastafarai-Bewegung und der schwarzen Kultur“.

Dass es in Panama heute von Reggae-Artists nur so wimmelt, dass zu Boomzeiten ein gutes Dutzend von Radiostationen rund um die Uhr den harten Sound, den sie hier „La Plena“ nennen, in die Landenge zwischen Kolumbien und Costa Rica pumpte – daran hat wohl weniger Marcus Garvey als der Calypso Schuld. Two Gun Smokey, Lord Delicious, Lord Kontiki oder der legendäre Lord Cobra, der in den Fünfzigern den unumstrittenen Calypso-König Mighty Sparrow an die Wand improvisierte: Die Nachfahren der von den West Indies eingewanderten Kanal- und Bananenplantagenarbeiter schufen in Panama eine eigene afro-antillanische Musiktradition, an der sich Panamas Reggae-Pioniere geschult haben. „Mein Vater und seine Cousins spielen bis heute in einer Calypso-Band“, erzählt Ernesto Brown, der Mitte der Achtziger als 14-Jähriger mit „Nes y Los Sensacionales“ eine der ersten panamesischen Reggae-Crews gründete. „Das war etwas, was mich während meiner Jugend immer begleitet hat.“ Was ihn noch begleitete, waren Drogen- und Alkoholprobleme, eine Anklage wegen Vergewaltigung und schließlich – während einer Messe in Colóns berüchtigter Strafanstalt „Nueva Esperanza“ – das christliche Erweckungserlebnis.

Für einen männlichen Schwarzen aus Colón keine untypischer Werdegang, und weil Nes eben Reggae-Star ist, besingt er die gottlosen Verirrungen seiner Jugend heute in christlichen Tunes: „Ich wurde vom Teufel im Jahre 1985 durch die Reggae-Mode verführt“, raunt, umspielt von zarten Pianoklängen, der bekehrte Artist in einem dieser Tunes. „Viele Jugendliche führt ich ins Unheil durch die Musik, die ich verbreitete.“ Ganz so eng sieht er es mit dem unheiligen Reggae dann aber doch wieder nicht: Auf den Festivals bringen Nes y Los Sensacionales nach wie vor „für die Chicas den heißen Style“, wie es auf ihrer letzten CD heißt.

Den heißen Style bringen sich die Chicas mittlerweile auch selbst. Demphra, Lorna, Kati oder Catherine heißen die weiblichen Reggae-Stars der Kanalrepublik. Die Erste, die zum Mikrofon gegriffen hat, sitzt in ihrem Schönheitssalon „New Jersey“ in einer Mega-Mall bei La Chorrera, anderthalb Busstunden von Panama City entfernt und erinnert sich an ihre Anfänge als Tänzerin des Reggae-Sänger Renato: „Er hat mir gesagt, ich hätte eine tolle Figur und könnte mich bewegen“, sagt Lady Ann, „irgendwann habe ich mich getraut und bin auf die Bühne, um zu singen.“ Klingt nicht nach einem radikalfeministischen Kick-off. Doch heute mit 27, gut zehn Jahre später, steht Lady Ann für die toughe, sexy Reggae-Queen, die die Typen zum Kochenlernen schickt. „Dejalo que aprenda, Mamá“ – „Lass ihn, damit er’s lernt, Mama“, heißt einer ihrer Hits. „Wir leben in einer Zeit, wo die Frauen oft einen besseren Job haben als die Männer“, sagt sie. „Das ist anders als früher, als die Männer die Hosen an hatten.“

Mehr als die Machos ärgern sie heute die ungerechten Verteilungsverhältnisse im Reggae-Business. Zwei- bis vierhundert Dollar bekommt sie pro Tune, als Komponisten der Songs aber firmieren die Produzenten, wie der allgegenwärtige Rodney Clark alias El Chombo. Von den Lizenzen sehen die Artists keinen Cent. Panamesischer „Reggaeton“, wie die etwas einfältige, aber hochbeliebte Teenie-Variante des Genres heißt, taucht mittlerweile auch in spanischen, mexikanischen und kolumbianischen Charts auf. „Die panamesischen Künstler laufen überall auf der Welt“, sagt Lady Ann. „Aber sie haben nichts davon.“

Ganz weit oben sitzt einer, der etwas davon hat. Edgardo Franco alias El General hat sich in einem Apartmenthochhaus im feinen Stadtteil Paitilla eine zweistöckige Luxuswohnung gekauft. 1985 war er nach New York emigriert. 1989 wurde sein „Tu Pun Pun“ der erste spanischsprachige Reggae-Tune, der es ins US-Radio geschafft hatte. Sein Swimmingpool ist noch nicht fertig, aber sein Kakadu hat auf der Terrasse hoch über der Bucht von Panama City schon ein zu Hause gefunden. Schon einmal spielte in der Karriere von Panamas Reggae-König ein Wolkenkratzer eine Rolle. Anfang der Neunziger, als die quäkigen Raggamuffin- und Dancehall-House-Tunes von El General die Charts stürmten, kursierte in Panama das Gerücht, er hätte sich auf Puerto Rico von dem selben Hochhaus gestürzt wie der Salsa-Superstar Hector Lavoe. Der Grund, warum El General seinem Ruhm keine Konzerttouren folgen ließ, war aber viel banaler: Er konnte die USA nicht verlassen, denn er hatte keine Green Card. Der erste Reggae-Superstar Lateinamerikas war ein Indocumentado, ein Papierloser.

Auch Edgardo Franco fand als armer Vorstadtteenager seinen Weg zum Reggae. Mit von einem Uni-Dozenten für afro-antillanische Kultur geliehenen Singles aus Jamaica, auf den Plattenspielern einer Disko, in der sie morgens putzten, machten er und die anderen Kids im Barrio Rio Abajo von Panama City ihre ersten Tapes. „Eigentlich fing alles in einem Bus an. Der hat immer auf uns gewartet, denn dem Busfahrer namens Calixto gefiel Reggae. Da haben wir unsere Tapes gespielt und gesungen, das war eine ambulante Diskothek, der ganze Bus hat getanzt.“ Ende der Siebziger war das, zurzeit der panamesischen Militärdiktaturen, erst unter General Torrijos, dann unter General Noriega. Außerhalb ihres Busses hatten die Reggae-Kids ständig Ärger mit der Militärpolizei, die sie drangsalierte und ihnen die Dreadlocks abschnitt. Im Reggae-Bus aber hatte der kleine Edgardo das Kommando. Weil er beim Improvisieren der Beste war, nannten sie ihn den „General“. Ein Jahrzehnt später ließ Edgardo Franco tatsächlich eine barocke Generalsuniform zu seinem Markenzeichen und Bühnenoutfit werden. Nur einmal sollte ihm ein echter General dabei in die Quere kommen: In Chile, während seiner ersten großen Tour ließ Pinochet sämtliche Bühnenuniformen konfiszieren. Dass ein schlaksiger Schwarzer mit Segelohren und breitem Grinsen sich vor tausenden begeisterter Anhänger als „El General“ feiern lässt, war ihm offensichtlich unerträglich.