Zug um Zug um Zug

Überwindung ist alles. Wer als Kind nicht schwimmen gelernt hat, müht sich als Erwachsener sehr, die Angst vor der Tiefe abzulegen

VON JUTTA HEESS

Am Beckenrand liegen zwei orangefarbene Schwimmflügelchen. Das Kind im Wasser braucht sie nicht mehr. „Herr Just, ich kann schwimmen!“, ruft der Junge aus dem Nichtschwimmerbecken. Herr Just nickt ihm zu. Er ist Schwimmlehrer in Berlin und wartet auf seine nächsten Schüler: zehn Erwachsene, die ohne Anleitung und Hilfsmittel im Wasser untergehen würden.

Nana ist schon zum zweiten Mal dabei. Die 39-jährige Russin hat es in den sechzehn Stunden ihres ersten Schwimmkurses nicht geschafft, sich über Wasser zu halten. „Ich habe immer ein bisschen Angst – warum, weiß ich auch nicht genau“, sagt sie. Schließlich sei sie am Schwarzen Meer aufgewachsen. Und dort immer mit einem Reifen baden gegangen. „Schwimmen habe ich so nie gelernt“, sagt sie und steigt schon mal ins flache Nichtschwimmerbecken. Die anderen neun Teilnehmer werden unterdessen von den Schwimmlehrern Rolf Just und René Rutsch begrüßt und in den Kursablauf der kommenden acht Wochen eingewiesen. Zweimal eine Dreiviertelstunde pro Woche werden sie versuchen, schwimmen zu lernen.

Marcy legt ihr Handtuch auf die Liege und geht zögernd zum Becken. Ihr ist mulmig zumute. „Ich hatte als Kind ein schlimmes Erlebnis“, erklärt die 25-Jährige ihre Angst. „Ich habe mit meinen Cousins im Meer gespielt, wurde getunkt und konnte nicht mehr auftauchen.“ Danach habe sie sich nie mehr richtig ins Wasser getraut. „Und das, obwohl ich in Peru direkt am Meer groß geworden bin“, sagt sie. „Jetzt will ich unbedingt schwimmen lernen. Es ist total langweilig, am Badesee immer auf die Sachen meiner Freunde aufpassen zu müssen, während die sich im Wasser vergnügen.“ Langsam steigt sie ins Becken. Das Wasser geht ihr gerade bis zur Brust.

Gemeinsam mit ihren Mitschülern muss sie sich nun an das Wasser gewöhnen. „Einfach mal ein bisschen gehen, vorwärts und rückwärts“, weist René Rutsch an. „Und dann auf der Stelle springen.“ Die Älteste in diesem kleinen Wasserballett ist die 61-jährige Rosemarie. Sie hält zitternd die Arme vor dem Bauch verschränkt. Sie ist die Einzige, die eigentlich schwimmen kann. Doch seit sie einmal im Wasser einen Krampf im Fuß hatte, traut sie sich nicht mehr ins tiefe Becken. „Da muss man psychologisch ran“, meint René Rutsch vertraulich und ruft die hüpfenden Erwachsenen an den Rand.

„Bei den meisten von euch kommt die Angst ab hier“, sagt er und hält sich die Hand ans Kinn. „Deshalb müssen wir uns daran gewöhnen, dass das Gesicht beim Schwimmen nass wird.“ Er bittet seine Schüler, mit dem Kinn unterzutauchen und auf die Wasseroberfläche zu pusten. Rosemarie hat sichtlich Probleme. Immer wieder schreckt sie vor der kleinen Welle zurück, die sich bildet. Auch Marcy haucht nur vorsichtig aufs kühle Nass. Andere blasen so kräftig, dass eine kleine Fontäne entsteht, oder atmen unter der Wasseroberfläche aus. Danach werden die Übungen kombiniert: „Laufen und kräftig ausatmen. Und die Arme dazu bewegen!“ Wieder hoppeln zehn Erwachsene durchs Nichtschwimmerbecken. Ein Kind schaut erstaunt herüber.

Während René Rutsch die erwachsenen Seepferdchen betreut, erzählt Rolf Just die Geschichte eines Mannes, der einst beim ihm schwimmen lernen wollte. „Er verreiste gerne, und irgendwann war es ihm zu peinlich, immer nur durch den Pool waten zu können, um an die Cocktailbar zu gelangen. Dann hat er hier geübt, sich sechs Züge lang über Wasser zu halten. Das hat ihm vollkommen gereicht.“ Schon an der Körpersprache und in den Augen, sagt Just, sehe er, ob ein Anfänger sich wirklich überwinden und noch das Schwimmen erlernen könne. Und? Wird es aus der neuen Gruppe jemand nicht schaffen? Dazu will er lieber nichts sagen.

Inzwischen hat die Gruppe Unterstützung bekommen. Der Betreuer hat 1,50 Meter lange Schaumstoffwürste verteilt. Gelb, orange, blau, grün und lila leuchten sie im Wasser. „Das sind Poolnudeln“, erklärt Rolf Just, „die verschaffen euch Auftrieb.“ Die Schwimmwilligen klemmen sich je eine Poolnudel unter und üben nun die stabile Bauchlage am Beckenrand. „Greift mit den Händen in die Rille und haltet euch gut fest!“, ruft René Rutsch. „Und Körperspannung!“ Zum Abschluss der ersten Übungsstunde dürfen alle eine kleine Schlittenfahrt machen: Die Hände umfassen die Rettungsschlaufe einer Stange, die René Rutsch langsam vom Beckenrand aus nach vorne zieht. Marcy hält die Luft an, Rosemarie zittert immer noch. Immerhin: Sie und ihre Mitschüler haben sich schon ein bisschen im Wasser fortbewegt. Und die fortgeschrittene Anfängerin Nana schwimmt eine Bahn nach der anderen, allerdings mit der Nudel unter dem Bauch.

Am nächsten Tag ist ein junger Mann der Erste am Übungsbecken. Er ist groß und sieht sportlich aus. Aber Hardy kann nicht schwimmen. „Im Schwimmunterricht an einer DDR-Schule hat in meiner Gruppe kein Einziger das Schwimmen gelernt“, erinnert sich der 30-Jährige. „Ich war danach zu faul – und zu feige. In der Pubertät war es mir richtig peinlich, dass ich nicht schwimmen kann.“ Jetzt wolle er das endlich nachholen, zumal er gerne ins Wasser gehe und sogar schon Wasserski gefahren sei. „Allerdings mit Rettungsweste.“

Die zweite Stunde beginnt wie die erste: Laufen und Hüpfen im Wasser, ähnlich wie die Aqua-Gym-Gruppe im benachbarten Pool. Dann wieder Wasserpusten, stabile Bauchlage am Beckenrand und Poolnudel-Sliding. Ein Programm der kleinen Schritte in vielen Wiederholungen eben. Die nächste Übung allerdings ist neu: Die Kursteilnehmer müssen sich mit dem Bauch auf den Beckenrand legen und die Beinbewegung trainieren: „Anziehen, auseinander, zusammen!“, ruft Rolf Just, der heute das Kommando hat. „Und denkt an die Frösche!“ Zehn Erwachsene auf der harten Beckenrandkante – der Weg zur ersten zurückgelegten 50-Meter-Bahn ist beschwerlich. Die gleiche Beinbewegung müssen die Schwimmwilligen dann im Sitzen durchführen. „Nicht gerade eine elegante Bewegung für eine Frau“, stöhnt Marcy. „Eure Bauchmuskulatur ist unterentwickelt“, kontert Rolf Just.

Im Anschluss an das Halbtrockenschwimmen wird die Bewegung im Wasser geübt, natürlich nicht ohne Poolnudel. Rolf Just schaut streng und korrigiert falsche Beinschläge. Zum Abschluss muss jeder ohne die Schaumstoffschlange vorschwimmen. Nach drei Züge gehen die meisten unter und richten sich im Becken auf. Nana bekommt immerhin sechs Züge hin. Rosemarie packt eine ganze Bahn.

Vier Wochen später versammeln sich die Nichtschwimmer zur neunten Stunde im Hallenbad. Die Frage „Schwimmst du schon?“ beantwortet Hardy mit einem knappen „Nö“. Erneut trainieren sie die Beinbewegung am Beckenrand und die Fortbewegung im Wasser mit Schwimmhilfen. Zur Schaumstoffschlange ist nun ein Brett hinzugekommen, das die Anfänger über Wasser hält. So üben sie eine Bahn nach der anderen, immer wieder korrigiert und aufgemuntert von den Schwimmlehrern. „Hardy, das geht doch jetzt auch ohne Nudel, oder?“ Hardy lächelt und legt die farbige Schlange an den Beckenrand. Er schwimmt einen Zug, zwei Züge, wird aber immer hektischer und muss sich nach fünf Zügen wieder aufstellen. „Na, wird doch“, meint Rolf Just. „Ja, mit ’ner Menge Wasserschlucken“, sagt Hardy.

Nana und Rosemarie sind die Einzigen, die sich schon ohne Schwimmhilfen einigermaßen fortbewegen können. Aber der Schritt ins tiefe Wasser steht noch bevor. Und zwar heute. „Ruf doch schon mal jemanden vom DLRG“, scherzt Hardy, als er ins große Schwimmerbecken steigt. Einige Kursteilnehmer schwimmen zügig los – mit Brett unterm Bauch. Andere – darunter auch Marcy – stehen noch zögernd am Rand. „Das ist jetzt schon komisch“, meint sie.

Auch Rosemarie kostet es Überwindung, sich auf die ungewohnte Tiefe einzulassen. Langsam geht sie ins Wasser, das Geländer der Leiter immer fest umgriffen. Dann schwimmt sie vorsichtig, mit dem Brett unter dem Bauch, ganz dicht am Beckenrand entlang. „Atmen nicht vergessen!“, ruft Rolf Just. Auch Marcy ist inzwischen im Wasser, René Rutsch führt sie mit der Rettungsschlaufe durchs Becken. Hardy hat schon seine zweite Bahn hinter sich gebracht, natürlich mit Poolnudel-Unterstützung. Ganz unbemerkt von allen hat sich Nana ein bisschen abgesetzt. Sie hat es geschafft: Nana schwimmt. Ohne Hilfe, mit voller Konzentration. In ihrer 25. Schwimmstunde. Ihre Hartnäckigkeit hat sich gelohnt. Untergehen wird sie jetzt nicht mehr.

JUTTA HEESS, 32, lebt als freie Journalistin in Berlin. Ihre einzige Schwimmauszeichnung ist das Seepferdchen