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: Berliner Bettel-Boheme: Else Lasker-Schüler revisited

Sigrid Bauschinger ist eine ausgewiesene Else-Lasker-Schüler -Kennerin, ihre Biografie könnte ein Standardwerk werden. Wie üblich beginnt sie mit Kindheit und Jugend. Geboren 1869 im rheinischen Elberfeld, in ein jüdisch-großbürgerliches Elternhaus, hinterließ Else Lasker-Schüler selbst ein sorgfältig komponiertes Bild ihrer Kindheit.

Nun werden bisher unbekannte Quellen einbezogen, um Leben und Werk der Dichterin in aller Komplexität darzustellen. Dabei hat die Biografin manchmal zu viel des Guten getan. Sie tischt dem Leser alles auf, was an Material zu finden war. Die Lebenswege der Großeltern und der zahlreichen Geschwister, Schulzeugnisse und Postkarten des Sohnes, Zeichnungen, alles findet hier Erwähnung. Eine Detailfreude, die die Lesefreude hemmt.

Der größte Teil der 500 Seiten starken Biografie ist den Berliner Jahren der Dichterin gewidmet. 1894 zieht die frisch verheiratete Arztfrau nach Berlin, Charlottenburg. Dr. Schüler eröffnet seine Praxis am Alexanderplatz, die Ehefrau nimmt Zeichenunterricht, verkehrt in literarischen Kreisen, arrangiert Gesellschaftsabende und wird so Teil der Berliner Boheme, die sich weg von der Großstadt, in Künstlerkolonien nach Friedrichshagen und Schlachtensee hin ausbreitet. In Berlin veröffentlicht Else Lasker-Schüler erste Gedichte in Monatszeitschriften und 1902 ihren ersten Gedichtband „Styx“. Liebe, Triebe, Sünde und religiöse Geschichten sind die Grundthemen ihrer Lyrik. Ihre Bildersprache lebt von Rosen und Lilien, Wellen und Brunnen, von den für den Jugendstil charakteristischen Bewegungen des Schlängelns, Schlingerns und Loderns. Außerdem teilt sie die Faszination der westlichen Welt für alles Orientalische. Sie stilisiert sich als „Prinz von Theben“ in einem selbst entworfenen Orient: „ich bin in Theben geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland.“

Bauschinger zeichnet ein Bild von Else Lasker-Schüler als exzentrische Außenseiterin, die sich aber auch ganz praktisch für ihre Freunde engagiert, Geld eintreibt, Bittschriften verfasst. Dabei werden in vielen Details die ökonomischen Bedingungen des freien Künstlertums beleuchtet. Else Lasker-Schüler machte sich wohl völlig unrealistische Vorstellungen von den Einnahmen durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte und hing zeitweise sogar dem schönen Gedanken nach, Dichter müssten durch Dichtung reich werden. Sie, die heute zur Avantgarde des Expressionismus und der klassischen Moderne gezählt wird, erhielt nur lächerliche Honorare für ihre Veröffentlichungen.

Nach der Trennung von ihrem zweiten Mann lebte sie in panischer Angst, nicht mehr für ihren 13-jährigen Sohn sorgen zu können. Sie schrieb Bittbriefe an Stiftungen und rief sogar in einer Ausgabe in Karl Kraus’ Fackel zu einer Spendensammlung in eigener Sache auf. Die wirkliche Lösung sah sie aber in der staatlichen Förderung der Künstler: „Der Staat hätte die Pflicht mich zu ernähren!“, schreibt sie erbost.

Gern erprobte sie sich in Maskeraden und exotischen Bildern, war eine frühe Performance-Künstlerin. Die bekannteste Fotografie zeigt sie im „Knabenkostüm“ mit einer ägyptischen Flöte. Ihr großes Lieblings-Performance-Projekt blieb unaufgeführt: Auf einer arabisch mit silbernen Kissen dekorierten Bühne wollte sie ihre Gedichte in „düsterem Syrisch“ vortragen, mit einem Übersetzer im Frack und einem kleinen Afrikaner zur Seite, der ihm die Blätter reicht.

Das letzte Kapitel der Biografie beschäftigt sich mit der Zeit im Exil, in Zürich und Ascona. Ihre letzten Jahre 1939 bis 1945 verbringt sie in Palästina, die Spurensuche endet an einem Grabstein auf dem Ölberg.

CHRISTIANE RÖSINGER

Sigrid Bauschinger: „Else Lasker-Schüler, Biographie“. Wallstein Verlag, Göttingen 2004, 38 Euro