Das Kind rührt sich nicht mehr

„Diese Kinder hätten Hilfe gebraucht, als sie hier angekommen sind“

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Sie haben aufgegeben. Die zehnjährige Trichna aus Bangladesch, die zwölfjährige Jenifer aus Mazedonien, die dreizehnjährige Karman aus Aserbaidschan. Rund 150 Kinder zwischen vier und siebzehn Jahren sind es. Sie stammen aus Flüchtlingsfamilien. Die meisten von ihnen sind Mädchen, die Hälfte aus Ländern Exjugoslawiens und der ehemaligen Sowjetunion, der Rest aus Staaten wie dem Iran, Syrien, der Türkei, Algerien. Sie liegen hier in Schweden apathisch in ihrem Krankenhausbett, haben teilweise schon vor Monaten aufgehört, zu essen und zu sprechen, sich vollständig in sich zurückgezogen. Sechzehn von ihnen werden oder wurden in der kinderpsychiatrischen Klinik Stockholm behandelt, alle anderen in Heimen, Kinderkrankenhäusern und Kliniken im ganzen Land. Sie werden vom Personal künstlich ernährt, die Windeln werden ihnen gewechselt, man dreht sie regelmäßig in eine andere Lage, um Wundliegen zu vermeiden.

Ihr Zustand hat keinen Namen. Mal wird er als „Phänomen“ bezeichnet, mal als Krankheit, auch als „Kontaktlosigkeit“ oder „flüchtlingsbedingte Apathie“. Die Ärzte sind meist hilflos, vor allem was die Fälle angeht, bei denen dieser Zustand schon seit über vierzig Wochen andauert. Wissenschaftlich dokumentiert ist eine solche Erkrankung nach einer Untersuchung der schwedischen Kinderhilfsorganisation Rädda Barnen bislang nirgends auf der Welt. Und sie scheint außerhalb Schwedens auch so gut wie unbekannt zu sein. Die betroffenen Kinder seien am ehesten Opfern von Kriegen und traumatischen Erlebnissen vergleichbar, die anschließend wie Zombies planlos in der Gegend umherliefen. „Im Unterschied zu den Kindern hier in Schweden legen sich solche Kinder allerdings nicht einfach hin. Denn sie wissen, dass sie dann sterben würden“, sagt Guhn Godani, Psychologin bei Rädda Barnen.

Godani hat mehrere dieser apathischen Flüchtlingskinder begutachtet und berichtete kürzlich auf einem Seminar über einige von ihnen. Ein dreizehnjähriges Mädchen aus Tschetschenien, das seit sechs Monaten in exakt der gleichen Stellung in seinem Bett liegt – künstlich ernährt, die Augen geschlossen, auch nicht mehr auf Berührungen reagierend. Versuche man, sie aufzurichten, „fällt sie zusammen wie eine abgeblühte Blume“. Die Ausländerbehörde warte derzeit darauf, sie mit ihrer Familie ausweisen zu können.

Neulich habe man ein ähnlich apathisches Mädchen nach Bosnien abgeschoben. Sie lebe jetzt in Banja Luka. „Diese Kinder haben aufgegeben. Sie wissen nicht, was mit ihnen passiert. Sie haben oft traumatisierte Eltern, die es nicht mehr schaffen, sich um ihre Kinder zu kümmern.“ Guhn Godani ist kritisch und bitter: „Unsere Methoden helfen nicht, wir wissen nicht, was wir machen sollen. Diese Kinder hätten Hilfe gebraucht, als sie hierher gekommen sind. Doch sie werden erst behandelt, wenn sie ausgewiesen werden sollen.“

Der Zustand dieser Kinder steht offenbar in untrennbarem Zusammenhang mit dem Asylverfahren der Familie oder dessen Hintergründen. Die Eltern der 12-jährigen Jenifer kamen Weihnachten 2001 nach Schweden, sie sind Roma aus Mazedonien. Jenifer war von Anfang an mehrfach in Kontakt mit den kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen verschiedener Krankenhäuser, doch richtig ernst wurde es erst, als der Asylantrag der Familie abgewiesen und sie abgeschoben werden sollte. Statt ins Flugzeug nach Mazedonien wurde sie ins Stockholmer Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus gebracht. Nun wird sie viermal täglich an eine Sonde angeschlossen und künstlich ernährt.

Wie lange kann dieser Zustand andauern? Bis das Kind stirbt? „Vermutlich“, sagt Göran Bodegård, Oberarzt an der Jugendpsychiatrischen Klinik Stockholm. Seit drei Jahren beobachtet er diese Art von Erkrankungen, doch erst seit einigen Wochen gibt es eine öffentliche Debatte darüber. Nicht zuletzt weil die Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet das Thema der apathischen Flüchtlingskinder aufgegriffen und so landesweit bekannt gemacht hat.

Bodegård hat mittlerweile auch einen ersten wissenschaftlichen Text über das publiziert, was er „partiellen Funktionsverlust“ nennt. In seiner Studie beschreibt er fünf Kinder, alle jünger als zehn Jahre. Alle kommen aus ehemaligen sowjetischen Republiken: ein Mädchen, das nach und nach immer passiver wurde, bis es nur noch stumm und kontaktlos dalag; ein Junge, der gerade noch davon abgehalten werden konnte, von einer Brücke zu springen, danach aufhörte, zu essen und zu trinken, inkontinent wurde.

Von zweien der fünf Kinder wurden Verwandte ermordet, mehreren der Mütter war im Beisein der Kinder Gewalt angetan oder sie waren bedroht worden. Drei der Kinder haben Selbstmordversuche hinter sich. Nach Schweden gekommen, entwickelten sie Depressionen, Essstörungen, Aggressionen. Schließlich nur noch Passivität. In Behandlung gekommen waren sie eher zufällig. Weil Betreuungspersonal oder Eltern irgendwann verstanden hatten, dass nicht körperliche Krankheit, sondern Hoffnungslosigkeit sich hinter den jeweiligen Symptomen verbarg.

„Das Teuflische ist, dass die Symptome psychischer Natur sind, aber der Schlüssel zur Hilfe und zum Gesunden für diese Kinder ganz woanders liegt“, sagt der Psychologe Andreas Tunström: „Die Familien wollen Sicherheit, sie wollen Asyl. Darum geht es auch den Kindern.“ Was nicht heiße, dass die Kinder simulieren. „Ein Kind liegt nicht apathisch monatelang herum und tut so, als ob es stirbt“, weist Bodegård diesen nahe liegenden Einwand zurück: „Wer das behauptet, hat solche Kinder noch nicht gesehen.“

Gegen die These spreche auch, dass bislang noch nie Kinder, die allein nach Schweden gekommen seien und hier Asyl gesucht hätten, solche Symptome entwickelt hätten. Immer nur solche mit Familien. Wobei seiner Erfahrung nach die Mutter und deren Zustand offenbar eine entscheidende Rolle spiele.

Wenn die Familien bleiben können, fänden die Kinder meist zu ihren normalen Funktionen zurück. Sie beginnen wieder, zu sprechen, zu essen, zu spielen. Oft dauere es Wochen. Bei einigen helfe aber nicht einmal der positive Behördenbescheid, so wie sie andererseits auch schon oft, bevor es Komplikationen im Asylverfahren gebe, krank geworden seien. Doch meist stehe der Genesungsprozess in direkter Beziehung dazu, wie die Kinder die Situation der Mutter empfinden. Entscheidend sei also eigentlich die Fähigkeit einer deprimierten Mutter, den Kindern Lebenslust zu vermitteln. „Offenbar steht in dieser Fluchtsituation gerade die Mutter den Kindern am nächsten“, vermutet Bodegård: „Warum, darüber kann man nur spekulieren.“

„Wir können die Kinder doch nicht dadurch gesund machen, dass wir der Familie eine Aufenthaltserlaubnis liefern“, wendet Rigmor Långström von der Ausländerbehörde Migrationsverket ein: „Selbst wenn die Folge einer solchen Erkrankung häufig ist, dass die Familie letzlich bleiben kann, kann das nicht unser Ausgangspunkt sein.“

Beim Migrationsverket hat man nun als erste Konsequenz einige MitarbeiterInnen speziell für die Befragung von Kindern ausgebildet und will versuchen, schneller auf Familien aufmerksam zu werden, deren Kinder Gefahr laufen, schwer zu erkranken. Und auch Långström wirft den Kindern nicht etwa vor, ihre Krankheit zu simulieren. „Kinder können solche Symptome gar nicht spielen“, weiß Guhn Godani aus ihrer Erfahrung: „Die sind wirklich krank.“

Auch Godani sieht die Ursache der Erkrankungen in den von Bodegård beschriebenen Lebensverhältnissen der Kinder: in traumatischen Erlebnissen im Heimatland, auf der Flucht. Verzweifelte, deprimierte und handlungsunfähige Eltern, die ihre Rolle nicht mehr ausfüllen und ihren Kindern die Hoffnung auf eine bessere oder überhaupt eine Zukunft nicht mehr vermitteln könnten. Zudem das lange Warten auf eine Entscheidung. Das schwedische Asylverfahren ist nicht humaner oder inhumaner als anderswo in Westeuropa, die Verfahrensdauer ist der in Deutschland vergleichbar. Warum es die apathischen Flüchtlingskinder vorwiegend in Schweden zu geben scheint, ist daher eine Frage, auf die es bislang noch keine rechte Antwort gibt.

Der schwedische Psychiatrieprofessor Sten Lewander hat zusammen mit dem Kinderpsychiater Hans Adler KollegInnen in vielen anderen Ländern kontaktiert und erfahren, dass dort das Phänomen solcher Kinder mit partiellem Funktionsverlust völlig unbekannt ist. Lewander glaubt deshalb an spezielle schwedische Ursachen. Welche auch immer: „Wir produzieren psychische Erkrankungen, die wir dann nicht mehr behandeln können.“

Kinderpsychiater Bodegård kann sich das aber nicht vorstellen. Trifft seine Vermutung zu, gibt es diese Kinder tatsächlich zu tausenden überall in Europa: „Es kann nämlich sehr gut sein, dass man darauf in anderen Ländern nur noch nicht so systematisch aufmerksam geworden ist.“ Eine Vermutung, die der Psychologe Andreas Tunström teilt: „Vielleicht ist das jetzt nur nach oben geschwemmt worden, weil dem Problem hier ein Platz eingeräumt und ein Name gegeben wurde.“ Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern stehe die psychiatrische Krankenversorgung in Schweden nämlich auch Flüchtlingen und Kindern von illegal hier lebenden AusländerInnen offen.