„Alle Arbeitslosen haben exakt dasselbe Problem“

Weil die sozialen Einschnitte ab 1. Januar alle gleichzeitig betreffen, wird der Druck auf Rot-Grün erheblich zunehmen, ist der Protestforscher Dieter Rucht überzeugt

taz: Herr Rucht, noch sind die Aktionen gegen das neue Arbeitslosengeld II eher klein. Bleibt es dabei, oder muss sich die Regierung auf Massendemonstrationen einstellen?

Dieter Rucht: Es wird zu einer Ausweitung der Proteste der Arbeitslosen kommen.

Aber Erwerbslose sind geradezu berüchtigt dafür, dass sie fast nie protestieren.

Normalerweise stimmt das, weil Arbeitslose strukturell vereinzelt sind. Sie begegnen sich nicht – und bei jedem sind die Umstände anders. Außerdem konkurrieren sie miteinander. Jeder hofft, dass er vielleicht doch noch einen Job bekommt, wenn er seine Bewerbung nur etwas pfiffiger gestaltet als die anderen.

Wieso sollte es also zu Arbeitslosenprotesten kommen?

Weil die Regierung eine außergewöhnliche Situation geschaffen hat: Zum ersten Mal bekommen alle Langzeitarbeitslosen gleichzeitig ein Antragsformular, und alle wissen, dass sie zum gleichen Zeitpunkt einen Teil ihrer Leistung verlieren – nämlich zum 1. Januar 2005. Damit haben alle Langzeitarbeitslosen exakt dasselbe Problem. Das gab es noch nie, deswegen können sie sich jetzt leichter als eine Gruppe von Betroffenen organisieren.

Hätte sich die Regierung das nicht denken können?

Zynisch formuliert: Die Politik hätte es genauso anstellen müssen, wie es oft bei Entlassungen geschieht: häppchenweise staffeln. So dass etwa erst die Langzeitarbeitslosen über vier Jahre drankommen, dann jene über drei Jahre und so weiter. Dann hätte jede Gruppe gehofft, dass es sie vielleicht doch nicht trifft – und würde zu Hause bleiben.

Was ist mit jenen, die einen Job haben? Werden sie sich mit den Arbeitslosen solidarisieren und auch protestieren?

Einzelne intellektuelle Sympathisanten werden sich bestimmt zu Wort melden, aber es wird keine relevante Mobilisierung der Mittelschichten geben. Sie sorgen sich zwar um ihren Arbeitsplatz, aber die allermeisten haben auch die Hoffnung, dass sie ihn behalten. Es fehlt das starke Motiv, um ein Plakat zu malen und sich neben einen Arbeitslosen zu stellen.

Aber könnte Protest überhaupt Erfolg haben? Kanzler Gerhard Schröder erklärt seine Arbeitsmarktreformen für unantastbar.

So banal es klingt: Das ist nur eine Frage des Drucks. Wenn der Protest laut, frech und groß genug ist – dann gibt die Regierung nach.

Aber die Reformen sind längst Gesetz.

Trotzdem könnte man die Zumutbarkeitskriterien für Jobs aufweichen oder die Vermögensanrechnung verändern. Es gibt genug Stellschrauben.

An denen die Union im Bundesrat mitwirken muss. Wie würde sie sich denn verhal- ten?

Falls sie wegen der Proteste um Stimmen fürchten müsste, würde sie einen vagen Kurs einschlagen nach dem Motto: „Bloß nicht auffallen“. Wenn die SPD sich doch noch entscheiden sollte, sich als Anwalt der Schwachen zu profilieren – dann kann die Union nicht mit dezidierten Aussagen dagegenhalten. Sie würde im Bundesrat mitmachen.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN