Mr. French Movie

Die reichlich kaputte Psyche der Superreichen, die ehrliche Modeszene der Siebzigerjahre und eine lebensverändernde Herzoperation: Ein Porträt des amerikanischen Schriftstellers Dirk Wittenborn

VON HENNING KOBER

Es ist ein schöner Morgen auf Long Island. Als Dirk Wittenborn den Hörer abnimmt, zwitschern Vögel im Hintergrund. „Die Sonne scheint, Boote ziehen vorbei“, sagt er, und, nein, dass wir uns in der Woche zuvor verpasst hätten, überhaupt kein Problem. Es wäre sowieso nicht das amüsante Roastbeef-Dinner im Speisewagen des TGV Marseille–Geneva mit Schneegipfelblick geworden: „Die Snackbar war ganz schlecht, ich saß dort eingequetscht zwischen Franzosen, die sich über die dummen Amerikaner ohne Sitzplätze amüsieren.“ Die näheren Umstände des letzten Urlaubstages von Dirk Wittenborn in Südfrankreich im Telegrammstil: Frühzug. Vergessen Tickets zu kaufen. Verspätet am Bahnhof. Alle Hände voll, rechts die Koffer, links Goldstück Liselotte, das dreijährige Töchterchen. Im Zug nur besetzte Plätze. Englisch zwecklos, nur Französisch.

Es müssen Momente gewesen sein, in denen sich das Chaos an einem überzeugten Chaoten gerächt hat. Dafür war laut Wittenborn das Literaturfestival in Leukerbad wieder ganz hervorragend, „drei Tage hatte man das Gefühl, die Welt würde sich nur um Bücher drehen“. Überhaupt hat er im Moment sehr gute Laune. Das hat zum einen zu tun mit der Nachricht über die Emmy-Nominierung für den von ihm produzierten Film „Born Rich“. Zum anderen aber, und das ist wohl entscheidender, mit dem Leben im Allgemeinen. Denn, so merkt er an, „ich wäre verloren gewesen, hätte ich meine Frau nicht getroffen“. Sie, aufgewachsen in Bonn, bis vor einigen Jahren erfolgreiches Model, jetzt Psychoanalytikerin, ist sein Glücksstern und nicht zuletzt dafür verantwortlich, „die Chance zu einer zweiten Karriere bekommen zu haben“.

Erschrieben hat er sich die mit dem Roman „Unter Wilden“, der im vergangenen Jahr erschien und zurzeit mit Donald Sutherland verfilmt wird. Der Roman erzählt die Geschichte des 15-jährigen Finn, der mit seiner drogensüchtigen Mutter in New York wohnt und dauernd von seinem nie gesehenen Vater träumt, der im Amazonas das Leben von Ureinwohnern erforscht. Wie alle guten Jungen liebt er seine Mutter über alles, kauft für sie ein, als sie vom Turkey geplagt wird, und wird prompt geschnappt mit einem schönen Brocken Koks. Vor der Polizei und den Großeltern flüchten sich Mama und Sohn nach Vlyvalle, in eine skurrile Siedlung des obszönen Reichtums in New Jersey: Hier soll die Mutter einen Milliardär mit ihren magischen Massagehänden beglücken. Währenddessen lernt Finn nicht nur sein erstes Dope zu verkonsumieren, sondern auch die ersten Augenblicke der Liebe kennen.

Klingt nach typisch Coming-of-Age, ist es auch, aber noch mehr: Dirk Wittenborn seziert in Folge kundig die zahlreichen Psychos im Milieu der Superreichen. Dieses, genauer gesagt die Ostküsten-Geldaristokratie, scheint sein bevorzugtes Sujet zu sein. Zusammen mit seinem 21-jährigen Neffen Jamie Johnson, einem Angehörigen des Johnson-&-Johnson-Clans, dem Eigentümer des größten Pharma- und Hygieneartikelkonzerns der USA, drehte er den großartigen Dokumentarfilm „Born Rich“. Interviewt werden in diesem Film zehn superreiche Kids, darunter Ivanka Trump, Georgina Bloomberg und S. I. Newhouse IV, Erbe der Condé-Nast-Dynastie. Sie sprechen über die Geldspeicher, die eine Kinderseele demolieren können, und wirken dabei wie Freaks mit ihren starren Augen. Es geht um Depressionen, Drogensucht und Größenwahn, aber die reichen Kids zeichnen sich auch aus durch juvenile Weisheit und kluge Fragen an sich selbst und die Eltern. Die quotenreiche Ausstrahlung in den USA, wo das Tellerwäscher-wird-Millionär-Klischee immer noch die Chiffre für die klassenlose Gesellschaft ist, sorgte für einen großen Aufreger. Der Grund: Wer Geld hat, spricht nicht darüber. Im Herbst zeigt auch die ARD den Film.

Dagegen erzählt Wittenborns zweites auf Deutsch vorliegendes Buch „Catwalk“ die Geschichte des texanischen Mädchens Stick, das im New York der Siebzigerjahre ein Modelstar wird. „Catwalk“, von Wittenborn in den frühen Achtzigerjahren geschrieben, ist ein Märchen aus einer anderen Zeit – das Supermodel war noch nicht erfunden, nicht jedes hatte Brustimplantate, und „Faltenunterspritzungen“ war ein Wort aus einer weit entfernten Zukunft. Die Begeisterung in Wittenborns Stimme, als er auf die Umstände von damals aufmerksam macht, verrät, wie unwohl ihm gerade ist angesichts des Zustands der US-Gesellschaft im Jahr 2004 unter der Bush-Regierung: „Wie traurig ist das, wenn sogar in den großen Städten alle zerfressen von Angst sind. Angst vor 9/11, Angst vor Aids, Angst keinen Job zu finden. Wer damals jung war, wollte nur raus, wollte auf den Highway, wollte Sex und Drogen.“ Seinen Humor hat er darüber trotzdem nicht verloren: Für das deutsche GQ rankte er gerade die „Töchter der Stars“. Auf dem letzten Platz: die Töchter von George W. Bush. Sex und Glamour null Punkte, Geld zwei. Gesamturteil: „Finger weg, es sei denn sie verstecken die Medikamente ihres Vaters.“ Wittenborn, geboren 1952, aufgewachsen im feinen Portville, New Jersey, schon damals umgeben von vielen reichen Menschen, erzählt, wie er seinen Entschluss, Schriftsteller zu werden, den Eltern mitteilte: „Es war der Tag, an dem die Collegekurse gewählt werden mussten. Anwesend waren meine Mutter, mein Vater, ein Psychologieprofessor in Yale, damals eine Koryphäe der Drogenforschung, und ich, der ich die Nacht vorher ordentlich Meskalin geschluckt hatte. Mein Vater war natürlich blind dafür und dachte, Arzt wäre ein guter Beruf für mich.“

Doch der kleine Dirk beschließt, dass „mein Leben aussehen soll wie ein French Movie“. Es zieht ihn nach New York. „Weißt du“, sagt er jetzt und erinnert daran, dass die USA neben aller Supermächtigkeit in entscheidenden Bereichen ein sehr naives, provinzielles Land seien, „ich wollte dieses eine schnelle, aufregende Leben.“

Ein Leben voller Drogen, Sex und Ausschweifungen, das ihn aber nicht davon abhält, sein Romandebüt „Eclipse“ und seinen Zweitling „Catwalk“ zu schreiben – Bücher, über die Manhattan spricht, zumindest die, auf die es ankommt. Umgeben von einer illustren Clique, zu der etwa John Belushi und Bret Easton Ellis gehören, feiert sich Wittenborn durch die Nächte und terrorisiert seinen Körper. Er trägt jeden Tag einen neuen Anzug in den schrillsten Farben, Rosarot, Mintgrün, Himmelblau, er schreibt Sketche für die Fernsehshow „Saturday Night Live“ und zieht sich eine weiße Linie nach der anderen durch die Nase. Er nennt es die „Koka-Jahre“.

Wittenborn wird dick und vergesslich. Der Terror wirkt. Er mietet ein Haus auf Montauk, macht einen Entzug, wird clean. Und doch scheint es zunächst, als falle für ihn der letzte Vorhang. Der ständige Erschöpfungszustand rührt nicht allein vom Koks her. Es ist ein Virus, zugezogen auf einer Indonesienreise, der langsam eine Kalkschicht um sein Herz legt und ihm die Luft abschnürt. In einer 14-stündigen Operation schälen die Ärzte seinen Herzmuskel – wie einen Apfel.

Er überlebt es, ohne Hirnschaden. Das zweite Leben des Dirk Wittenborn beginnt. Er behilft sich ausschließlich mit Cola-light und trotz der Herz-OP mit Zigaretten. Und bleibt locker, ohne zu bereuen. „Den Spaß der totalen Dekadenz wollen ja alle. Nur sieht man jung besser aus als in der Midlife-Crisis mit goldenem Porsche und der Hand zwischen den Beinen der Sekretärin.“ Ein guter Schlusssatz. Es knackt in der Leitung.

Dirk Wittenborn: „Catwalk“. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg, Dumont Verlag, Köln 2004, 350 Seiten, 19,90 €