Subjektive Mahnmale

Das asoziale Gedächtnis: „After images“ im Bremer Museum Weserburg will weniger zeigen, dass Kunst als Gedächtnis des Holocausts funktioniert, sondern wie sie als solches Gedächtnis funktioniert. Ästhetisch verbinden sich die Positionen nicht

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Das Entscheidende ist, dass etwas fehlt. Diese Ausstellung ist gezeichnet von ihrer Unvollständigkeit, genauer: vom – offenbar nur teilweise bewussten – Insistieren auf ihrer Unvollständigkeit. „Das Werk von Zbigniew Libera“ beispielsweise zitiert Guido Boulboullé, einer der vier Kuratoren von „After images – Die Kunst als soziales Gedächtnis“, in seinem Katalogbeitrag. Auf Liberas „Lego Concentration Camp“ (1996) habe man schließlich verzichten müssen, „was“, so der Kunsthistoriker weiter, „Peter Friese und ich ein wenig bedauern“. Friese wiederum, Kustos am Neuen Museum Weserburg in Bremen und Initiator der Ausstellung, steigt in seinem Essay „Nach-Bilder als Bildstörungen“ mit einer spannungsreichen Annäherung an Maurizio Cattelans „Him“ ein: 2001 war die Plastik eines Knienden im Münchner Haus der Kunst zu sehen, so aufgebaut, dass sie den Besuchern zunächst den Rücken zuwandte. Ein inszenierter Schock: Wer das Gesicht der Männerfigur sah, erkannte in ihr die Züge Adolf Hitlers. Auch diese Arbeit ist freilich in Bremen nicht zu sehen. Ebenso wenig wie Art Spiegelmans „Maus I“ – den Comic führt Mitkurator James E. Young als markante Auseinandersetzung mit dem Holocaust an – oder Sigmar Polkes Gemälde „Entartete Kunst“ von 1983. Obwohl es laut Museumsdirektor Thomas Deecke den Kuratoren „einer der Auslöser“ war, die Konzeption der Ausstellung überhaupt in Angriff zu nehmen.

Dieses Fehlen ist, wie gesagt, das Entscheidende: Auch nur die Behauptung von einer irgendwie befriedigenden Vollständigkeit wäre Verrat am eigenen Konzept, Rückfall in den Erlösungsglauben. Zeigen soll „After images“ nämlich weniger dass, sondern wie Kunst als Gedächtnis des Holocausts funktioniert, jenseits der auf Eindeutigkeit verpflichteten Repräsentativ-Logik eines auf Endgültigkeit zielenden Monuments. 20 Positionen werden gezeigt, die beteiligten Künstlerinnen und Künstler sind zwischen 1939 und 1968 geboren, also sämtlich nach dem Holocaust aufgewachsen, jedoch, wie es im Katalog heißt, „unauslöschlich von ihm geformt“.

Aber trotz des gemeinsamen Sujets und obwohl sie doch alle das Thema aus ähnlichen, oft denselben Quellen kennen müssten, ein ästhetischer Zusammenhang will sich nicht herstellen – als wäre das Gedächtnis gerade nicht sozial und als bliebe ihm nur der radikale Rückzug aufs Subjektive, um in der Kunst sich auszusprechen.

Subjektive Mahnmale – das wäre ein Hilfsbegriff, der immerhin eine Annäherung erlaubt: Er könnte eine Arbeit wie Darren Almonds Schwarzweiß-Video von 1997 erklären. Auf die Wand projiziert wird das grobkörnige Bild einer Bushaltestelle irgendwo in Osteuropa. Es ist regnerisch, kein Bus wird kommen. Sechs Minuten, verlangsamt abgespielt in einen Loop gebannt, sind die Unendlichkeit. Der Ort aber, wo diese Haltestelle stand, heißt Oświęcim, Auschwitz. Der belastete Name widmet den Alltagsgegenstand um, verleiht dem Banalen Bedeutung. Eng verwandt mit Almonds Vorgehen scheint die Arbeit Andreas Slominskis. „Glückspfennig“ (1996) heißt sie: Das Geldstück wird mit der Pathosformel einer Vitrine inszeniert. Ein leerer Glaskubus, nur an seinem Boden eine kleine, von Wind und Wetter angefressene Münze. Ein gewöhnliches Geldstück, wertlos für Numismatiker wegen der Gebrauchsspuren – und doch sind diese es, die ihm den Anschein eines archäologischen Fundes verleihen. Für den, der sich über die Münze beugt, wird verschwommen erkennbar: ein Adler, der in den Krallen ein Hakenkreuz hält. Und, leidlich beschädigt: das Prägedatum – 1943. Befremdlich, diese Installation. Und auf der Basis dieses Befremdens operiert Slominski. Die einmal auf diesen Reichspfennig fixierte Vorstellungskraft zwingt er zum Weiterdenken einer Legende. Fragmentarisch wie das Geldstück selbst, hat er sie diesem beigegeben: „Gefunden am 16. 5. 1996“, schreibt er, „auf einem Maulwurfshügel in Buchenwald.“

Müßig wäre es, den Wahrheitsgehalt dieses Satzes zu prüfen: Wer ihn als anstößig empfindet, ihn als Sarkasmus missversteht, versucht nur, sich gegen den Denkanstoß des Objekts zu verwahren. Nein, Slominskis Werk ist nicht moralisierend, es bietet keine Leitschnur zur Wahrnehmung. Ja, nicht einmal die Fragen, die es stellt, lassen sich anders als durch das Werk selbst artikulieren. Mit Sicherheit aber schickt es seine Betrachter auf die abenteuerliche Suche nach einer Geschichte, die – was unmöglich ist – das angebliche Glück des Pfennigs mit dem Ortsnamen Buchenwald und der Jahreszahl 1943 in Einklang bringt: Was dieser Pfennig auslöst, wäre beschreibbar als eine nur in der Hypothese und der Fiktion mögliche Archäologie des einzelnen Leidens.

Wäre das kollektive Erinnerung, soziales Gedächtnis gar? Der Untertitel der Bremer Schau führt zwar auf Spuren. Aber im Grunde ist er so falsch, wie ein Untertitel nur sein kann. Denn die Kunst rechnet zwar mit einem sozialen Bildgedächtnis. Sie braucht dessen Gewissheiten, dessen Bildprogramm Holocaust ruft sie ab – als Basis und als Gegner ihres assoziativen Spiels. Am deutlichsten wird das an jenen Werken, die sehr direkt auf jene Stereotype zielen, mit denen allgemein das Nazitum optisch hergestellt und der Schrecken bequem handhabbar gemacht wird. Dazu gehören zweifellos die unter dem Titel „Reine Wäsche“ (1984/89) firmierenden Fotoarbeiten von Bernhard Prinz – 16 Bilder von zeitgenössischen Frauen in historisch belasteter unterkühlter Pose und BDM-Tracht –, deutlicher aber noch das mittlerweile berühmte Fries „The Nazis“ von Piotr Uklanski: Als sie 1999 in London erstmals gezeigt wurde, provozierte die unkommentierte Porträtaufnahmen-Reihe von Film-Nazis vehemente Proteste. Wohl nicht zuletzt war dieser Zorn dem geschuldet, dass es sich mit dem auf Hollywoodformat geschrumpften Holocaust doch ganz gut leben ließ – und dass Uklanski dieses schweigende Arrangement mit einem Schlag zunichte gemacht hatte.

Das soziale Gedächtnis ist auch eine subtile und schwer hintergehbare Form der Verdrängung. Schon deshalb kann und darf Kunst nicht mit ihm zusammenfallen. Ihr wird es darum gehen, dem designten Kanon der Bilderfabrikanten zu entkommen, die Oberfläche des konsensual-glatten Erinnerungsstücks zu zerkratzen. Was unerreichbar unter ihr verborgen ist, wird darum nicht erreichbarer. Doch kann so wenigstens als Ahnung gezeigt werden, dass es fehlt.

Bis 2. Oktober, Katalog 25 €