Stille Post in der Moschee

Die Belastungszeugen haben Ihsen G. nie gesehen und nie gesprochen „Das Wort ‚Sport‘ ist im Arabischen anders zu verstehen“, sagte der Beamte

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Jeder Jurist weiß, was ein Prozess ist. Ebenso weiß er, was ein Experiment ist. Rechtsanwältin Margarete von Galen und ihr Kollege Michael Rosenthal, die einen mutmaßlichen islamistischen Terroristen vor dem Berliner Kammergericht vertreten, machten gleich am ersten Verhandlungstag klar, zu welcher Kategorie sie das Verfahren zählen, bei dem die Terrororganisation al-Qaida und deren Führer Ussama Bin Ladin unsichtbar mit auf der Anklagebank sitzen. „Die Bundesanwaltschaft hat ein Experiment vor“, erklärte von Galen. Trotzdem begrüßte sie die Eröffnung der Hauptverhandlung. „Sie wird deutlich machen, wie dürftig die Beweislage ist.“ Auch Rosenthal, normalerweise ein Freund rhetorischer Angriffe, brachte seine Kritik nüchtern vor: „Wir werden erleben, in welcher Unbekümmertheit Tatsachen durch kühne Behauptungen ersetzt werden.“

Dreieinhalb Monate nach der Eröffnung am 4. Mai ist der dunkle Vollbart des angeklagten Ihsen G. gewachsen, er ist sorgfältig gepflegt und reicht eine Handbreit unters Kinn. Aufmerksam sitzt der 34-jährige Tunesier im Saal 500 des Landgerichts hinter Panzerglas neben einem Dolmetscher, dessen Dienste er nur äußerst selten in Anspruch nimmt, und verfolgt die Verhandlung, die genau die Richtung genommen hat, die seine Verteidiger prognostiziert haben. Obwohl seine Anwälte für den ersten Tag angekündigt hatte, dass er sich zu der Anklage äußern würde, schweigt er.

Der Generalbundesanwalt am Bundesgerichtshof wirft Ihsen G. vor, im Juli 2001 nach Afghanistan gereist zu sein, um sich in einem Al-Qaida-Lager für den weltweiten Kampf der Muslime gegen die „Ungläubigen“ ausbilden zu lassen. Er soll eine ideologische und militärische Schulung durchlaufen haben, die Herstellung und den Gebrauch von Sprengstoff gelernt haben und als Ausbilder tätig gewesen sein. Im Januar 2003 soll er mit gefälschten Ausweispapieren zurückgekehrt sein und in Berlin Bekannte aus dem Umfeld der Al-Nur-Moschee in sein „terroristisches Vorhaben“ eingeweiht haben. Vier Personen sollen geneigt gewesen sein, mit ihm zusammen Anschläge zu verüben.

Kurz darauf soll Ihsen G. mit der „körperlichen und ideologischen Ausbildung der Terroraspiranten“ begonnen haben. Die oberste Strafverfolgungsbehörde wirft dem Angeklagten weiterhin vor, sich Substanzen zur Herstellung von Sprengsätzen besorgt zu haben, ebenso Mobiltelefone und Armbanduhren mit Weckfunktion, die für die Zündung von Sprengsätzen manipuliert werden sollten.

Was, wie, wo und wann auch immer geplant war, zur Durchführung kam es nicht. Ihsen G. wurde am 20. März 2003 festgenommen.

Ein Unschuldslamm ist der Angeklagte nicht. Er benutzte mehrere Aliasnamen, reiste mit einem gefälschten Pass, in seiner Wohnung in Gelsenkirchen wurden Computerdateien mit Elektronikbauteilen und Schaltpläne zum Bau von Sprengsätzen und eine Liste mit Chemikalien gefunden. Doch dass er wirklich in einem Ausbildungslager von al-Qaida war und den Auftrag bekommen hat, in Deutschland ein Blutbad anzurichten, um die westliche Welt zu demütigen, ist auch nach über drei Monaten nicht erwiesen.

Statt harter Fakten wurden von den Zeugen an den sich manchmal endlos hinziehenden Verhandlungstagen Entwicklungen aus dem Leben von Ihsen G. vorgetragen, der 1996 nach Deutschland kam, nachdem er eine deutsche Urlauberin in Tunesien kennen gelernt und später geheiratet hatte. Der ehemalige Schwiegervater, ein 57-jähriger Lehrer, erzählte, dass Ihsen G. am Anfang „europäisch sein wollte“, Bier getrunken habe, „hoch intelligent, freundlich und hilfsbereit“ gewesen sei. Ein Jahr später habe er sich verändert: Er ließ sich einen Bart wachsen, habe regelmäßig gebetet, sein Bier in den Müllschlucker geworfen und angeboten, über einzelne Passagen im Koran zu reden. Der Islam sei für ihn die Religion, die „die Welt beherrschen“ werde. Über Ussama Bin Ladin habe er gesagt: „Der wird es allen zeigen. Den kriegt keiner.“ Interessante Details, aber strafbar ist das nicht.

Hauptbelastungszeugen sind zwei Vertrauenspersonen, VP abgekürzt, also Spitzel, die dem Bundeskriminalamt (BKA) gegen Geld Informationen über angeblich terroristische Umtriebe aus dem Umfeld der Berliner Al-Nur-Moschee geliefert haben. Sie haben den Angeklagten nie gesehen, nie gesprochen, ihre Angaben beruhen auf Aussagen Dritter. Nur können sich weder Gericht noch Verteidigung ein eigenes Bild von den Zeugen machen. Die Berliner Innenverwaltung hat eine Sperrerklärung abgegeben, um ihre Identität zu wahren. Zudem hat ihnen der Generalbundesanwalt Vertraulichkeit zugesichert.

Vernommen wurde stattdessen der VP-Führer, ein Kriminaloberkommissar, der auch bei der Vernehmung der VPs durch die Bundesanwaltschaft zugegen war. Schon die Motivation der VPs ist fraglich. Als sie dem BKA ihre Dienste anboten – der eine 2001, der andere 2002 –, waren beide Männer arbeitslos und gaben materielle Interessen an. Sicher, sie erklärten auch, dass Extremismus dem Islam schade und sie deshalb Informationen über solche Gläubigen liefern wollten. Aber Spitzel sind in der Regel nicht von Idealismus getrieben. So versprach sich einer von ihnen auch Hilfe bei der Klärung eines ausländerrechtlichen Problems.

Der Eindruck, den der 41-jährige VP-Führer von seiner Arbeit vermittelte, wirft ein erschreckendes Licht auf die Terrorbekämpfung in Deutschland. Viele der Anklagepunkte sind offensichtlich das Ergebnis von forschen Interpretationen, Mutmaßungen und Wertungen, die als verlässliche Informationen in die Berichte eingeflossen sind und auch zu den Akten genommen wurden.

Wenn die VPs etwa behaupteten, dass sie gehört hätten, der Angeklagte sei in einem Ausbildungslager von al-Qaida gewesen, dann beruhte die Aussage auf einer aufgeschnappten Äußerung von Dritten in der Moschee über ein „Camp in Afghanistan“. Daraus folgerte der VP-Führer dann: „Wenn von einem Camp in Afghanistan die Rede ist, kann nur al-Qaida gemeint sein.“

Oder die vermeintliche „körperliche Ausbildung von Terroraspiranten“ in einem Sportraum der Moschee, die dem Angeklagten vorgeworfen wird: „Die VPs sind der Überzeugung gewesen, dass sei eine Ausbildung in Vorbereitung eines Anschlags“, sagte ihr Führer. Auf die Frage des Richters, wie sie zu dieser Überzeugung kamen, erklärte der Kriminalbeamte, dass sie das „nicht genauer benennen konnten“. Dann sagte der des Arabischen nicht mächtige Beamte allen Ernstes, dass das Wort „Sport“ in arabischer Sprache durchaus „anders zu verstehen ist als hier“.

Die Kernaussage der stundenlangen Vernehmung, die oftmals den Eindruck erweckte, als hätten die VPs Stille Post in der Moschee gespielt: Die VPs hatten „keine konkreten Informationen über Aktionen“ und auch keine Erkenntnisse, dass der Angeklagte andere von seinem Vorhaben überzeugt hatte. Fast schon mit Samthandschuhen fasste die Staatsanwältin, die bei der bundesanwaltschaftlichen Vernehmung der Vertrauenspersonen dabei war, den Zeugen an. Als wolle sie der Verteidigung zuvorkommen, fragte sie den VP-Führer, ob es „Belastungseifer“ gegeben habe. „Ich habe keine Hinweise für so eine Schlussfolgerung“, antwortete er brav. Schließlich sagte die Staatsanwältin zu der Vernehmung der Informanten einen sehr interpretierfähigen Satz: „Es wurde um Formulierungen gerungen.“

Auch die vier Männer, die Ihsen G. anzuwerben versucht haben soll und die Interesse gezeigt haben sollen, stützen die Anklage nicht. Zu den entscheidenden Punkten verweigerten sie die Aussage. Unter ihnen ist der Imam der Moschee, von dem Ihsen G. eine Fatwa erbeten haben soll. Gegen sie laufen Ermittlungsverfahren wegen der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung. Ob es zur Anklage kommt, hängt vom Verfahren gegen Ihsen G. ab.

Die einzig interessanten Erkenntnisse, die sie lieferten, betreffen den Ermittlungsdruck der Anklagebehörde. Der Kaufmann Hakan H. etwa. Der hatte ausgesagt, dass Ihsen G. bei mehreren Telefonaten von einem Ausbildungslager in Afghanistan erzählt und dafür Leute gesucht habe. Im Zeugenstand lamentierte er über die anstrengende Vernehmung und dass er das Protokoll nicht durchgelesen habe, bevor er unterschrieb.

Etwas Erhellung bringt die Erklärung, die in Ergänzung zu seiner Vernehmung protokolliert wurde: dass er sich freuen würde, wenn sein „Kooperationswille“ berücksichtigt werde. Kooperationswille? Hakan H., gegen den mehrere Ermittlungsverfahren wegen diverser Betrügereien laufen und der 2002 unter falschem Namen einen Pilotenschein machte, wurde im vergangenen Jahr wegen Steuerhinterziehung in großem Stil zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Zwei Tage nach seiner Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft zu Ihsen G. stellte er ein Gnadengesuch, um von der Haft verschont zu werden.

Dieses begründete er damit, dass er „wichtige Informationen zur internationalen Terrorismusbekämpfung“ geliefert habe. Auf die Frage des Gerichts nach den „wichtigen Informationen“ antwortete er: „Das weiß ich nicht mehr.“ Die Sprach- und Fassungslosigkeit konnte er auch mit seinen nächsten Sätzen nicht schmälern. „Wenn Sie sich an dem Terminus ‚wichtig‘ stören, gebe ich zu, dass es vielleicht etwas übertrieben war.“ Und: „Man versucht, Dinge zu erwähnen, um besser dazustehen.“

Ein Urteil über Ihsen G. ist für Anfang September geplant. Einen Freispruch wird es trotz der desolaten Beweislage nicht geben. Schließlich gibt es eine Reihe von Urkundendelikten und Verstößen gegen das Ausländergesetz. Zudem soll er in Berlin mit Gold und Silber gehandelt und dabei 200.000 Euro Umsatzsteuer nicht gezahlt haben. Außerdem soll er versucht haben, 600.000 Euro Einkommensteuer zu hinterziehen – all das sind keine Demütigungen der westlichen Welt. Vielleicht plante Ihsen G. wirklich einen Anschlag. Doch das müsste ihm nachgewiesen werden.