Die Sternstunde

Deutschland schreibt Handballgeschichte: Und Keeper Henning Fritz zaubert sich beim 32:30-Sieg über Spanien in die oberste Hexerkategorie

AUS ATHEN ERIK EGGERS

Es war eine ergreifende Geste, und sie wird jedem, der dabei Zeuge sein durfte, in Erinnerung bleiben, so wie viele andere Momente dieses fantastischen Abends im Sportpavillon des Faliro-Komplexes. Weil sie Würde, Fairness und Achtung vor dem Gegner symbolisierte in einer Sportart, die wie keine andere steht für Physis, Aggressivität und Durchsetzungsvermögen.

Henning Fritz, der Torwart der deutschen Handball-Nationalmannschaft, schuf diesen magischen Moment, nach der zweiten Verlängerung im schon bizarr dramatischen Viertelfinale zwischen Deutschland und Spanien. Es stand 30:30, beide Torleute hatten die Angreifer mit großartigen Reflexen zur Verzweiflung gebracht und über die Hälfte der Würfe gehalten – beinahe überirdische Werte im Handball, in dem 40 Prozent gehaltene Bälle bereits als sensationell gelten. Während sich die Schützen also nun auf das finale Nervenspiel vorbereiteten, auf dieses furchtbare Siebenmeterwerfen, das die 80 spannendsten Minuten der olympischen Handballgeschichte nun endgültig beenden würde, schritt der Mann vom THW Kiel auf seinen spanischen Widerpart zu, David Barrufet vom CF Barcelona. „Wir haben uns vorher schon angeschaut und nur gegrinst“, erzählte Fritz am Morgen danach, nun gab er Barrufet die Hand, und sie klopften, sich gegenseitig zu ihrer exorbitanten Leistung beglückwünschend, sich auf die Schulter. In diesem Moment waren sie beide Helden. Aber beide wussten, am Ende würde nur einer das Spielfeld als Held verlassen.

Beim Siebenmeterwerfen katapultierte sich schließlich Fritz, der die Aufholjagd und die Minuten des Shoot-outs „wie ein kleines Wunder“ empfand, in die Geschichtsbücher. Er parierte nacheinander gegen Hernandez, Belaustegui und Garcia, die alle als sichere Schützen gelten; der vierte Werfer, Xavier O’Callaghan, warf vor Schreck an den Pfosten. Fritzens Reaktionen war es zu verdanken, dass die beiden Siebenmeter durch Torsten Jansen und Daniel Stephan zum 32:30 (27:27, 28:28, 30:30) reichten.

„Er hat sie eiskalt abgezockt“, lobte überschwänglich Stefan Hecker, „sensationell, eine solche Leistung in dieser Situation abzurufen.“ Er muss es wissen: Hecker war in den 80er- und 90er-Jahren einer der Vorgänger von Fritz. Der deutsche Handball hat schon immer exzellente Keeper hervorgebracht: Manfred Hofmann, Weltmeistertorwart von 1978; Wieland Schmidt aus Magdeburg, der 1980 im Olympia-Finale die Sowjets zur Verzweiflung brachte; später Hecker und Andreas Thiel, genannt „der Hexer“. Fritz hütet schon länger das deutsche Tor, und immer waren seine Leistungen überdurchschnittlich. Aber um in die Sportgeschichte einzugehen, braucht es Sternstunden. Für Fritz war das 158. Länderspiel eine solche. Und der 29-Jährige genoss den Moment, der fortan sein Leben begleiten wird: „Es ist das Geilste, wenn du der Held sein darfst.“

Jetzt war er wie Wieland Schmidt, sein großes Vorbild. Wie oft hatte er als Jugendlicher in den 80er-Jahren hinter dem Tor des SC Magdeburg gesessen, Schmidts Paraden bewundert und beschlossen, es ihm nachzumachen! Am Dienstag noch ließ Schmidt ihm via SMS gratulieren und ihn grüßen. „Das macht mich stolz“, sagt Fritz, der außerhalb des Spielfelds immer einen fast lethargischen Eindruck vermittelt. Fritz pflegt leise zu reden, seine Statements sind überlegt, sein Wesen schüchtern. Auch am Tag danach bleibt er bescheiden: „Das ist eine Lotterie gewesen“, und dass „es uns wie den Zuschauern geht: Das war wirklich etwas Besonderes.“ Als Kretzschmar unter dem Gelächter der Anwesenden sagt, dass diese überirdische Leistung „ja irgendwie zu erwarten“ war, errötet der Gerühmte ein wenig.

Welch ein Gegenentwurf zu seinem Auftreten auf dem Spielfeld. „Man merkt, wie impulsiv er sich an den eigenen Paraden hochzieht“, sagt Hecker. Wenn er einen so genannten Unhaltbaren abwehrt, ballt Fritz die Hände zu Fäusten und schreit seine Freude heraus, zuweilen verfolgt er den erfolglosen Werfer mit aggressiver Gestik bis zur Mittellinie. „An mir kommst du nicht mehr vorbei“, soll das heißen.

Das Halbfinale am Freitag gegen die Russen (15.30 Uhr, ARD) verspricht ein ähnlich heißes Match zu werden. Die Mitspieler wollen keine Verhaltensänderung ihres Keepers. „Denn keiner“, reflektierte Kreisläufer Schwarzer am nächsten Tag die Emotionen, „jubelt so schön wie Henning Fritz.“ Wie soll das bloß werden, wenn sie sich am Sonntag tatsächlich zum ersten Olympiasieg seit 1980 werfen?