„Der Begriff ‚Reform’ ist nicht mehr positiv“

Die SPD flüchtet sich zunehmend in symbolische Politik und inszenierte Debatten, meint Parteienforscher Decker. Die Regierung ist mit den Folgen der Agenda 2010 ausgelastet, während der SPD-Chef die Basis mit Mindestlohn beruhigt

taz: Herr Decker, ungewöhnliche Zeiten scheinen anzubrechen: Regierung und Opposition haben keine Lust mehr auf Reformen. Schafft sich die Politik selbst ab?

Frank Decker: Der Begriff „Reform“ ist bei den Wählern nicht mehr unbedingt positiv be- setzt …

aber Schröders „ruhige Hand“ kam 2001 auch nicht besonders gut an.

Doch dazwischen liegen die Arbeitsmarktreformen, die die Wähler bis weit hinein ins bürgerliche Lager verunsichern. Und das Schlüsseljahr 2005 kommt ja erst noch, wenn Hartz IV umgesetzt wird.

Also macht man als Regierung einfach gar nichts?

So ist es ja nicht: Es werden gezielt Diskussionen inszeniert. Da ist eine Arbeitsteilung zwischen Kabinett und Partei zu beobachten. Während die Regierung mit der Umsetzung der beschlossenen Reformen voll ausgelastet scheint, beginnt SPD-Parteichef Müntefering eine Debatte um den Mindestlohn, Bürgerversicherung, Erbschaftsteuer und neuerdings sogar die Abstimmung über die EU-Verfassung.

Das sind äußerst langfristige Projekte, die – wenn überhaupt – erst nach der Bundestagswahl 2006 starten sollen.

Natürlich ist das zunächst symbolische Politik. Faktisch werden sich diese Projekte nur schwer durchsetzen lassen, zumal sie innerparteilich hoch umstritten sind und bei der Umsetzung große Probleme bergen. Das zeigt sich etwa daran, dass sich Finanzminister Eichel gegen die Steuerfinanzierung der Bürgerversicherung ausgesprochen hat.

Diese Widersprüche bemerken die Wähler. Warum mutet sich die SPD Debatten zu, wenn sie symbolisch bleiben?

Die SPD muss das Thema soziale Gerechtigkeit wieder besetzen. Die Partei leidet immer noch daran, dass sie ihre Klientel auf die Hartz-Reformen programmatisch nicht vorbereitet hat. Die Debatte hierüber hätte viel früher stattfinden müssen.

Aber diese Enttäuschung wird sich doch nicht durch Symboldebatten verflüchtigen.

Natürlich muss auch die Konjunktur anspringen, damit sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt bessert. Aber so aussichtslos ist es für die SPD gar nicht: Kanzler Schröder hat an Statur gewonnen, gerade weil er sich bei den Hartz-Reformen nicht hat beirren lassen.

Wenn der Kanzler nun auf weitere Reformen verzichten will – könnte es nicht sein, dass er damit vor allem die Grünen weiter stärkt? Sie haben sich ja schon bisher erfolgreich als „Reformmotor“ in der Regierung dargestellt.

Es ist nicht geschickt von der SPD, dass sie die Ressorts, die für die „harten“ Einschnitte stehen, alle selbst besetzt, während sich die Grünen mit „weichen“ Themen wie Umwelt- und Verbraucherschutz profilieren können.

Die Grünen haben es aber auch in der Sozialpolitik leichter, weil sie überwiegend Besserverdienende vertreten.

Das kann man nicht ändern. Aber die SPD wäre schlecht beraten, die „postmateriellen“ Wähler kampflos den Grünen zu überlassen und nur als Partei der Steinkohle aufzutreten.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN