„Carla del Ponte hat gravierende Fehler gemacht“, sagt Chris Stephen

Im Prozess gegen Milošević hätte sich die Anklage auf wenige, leicht beweisbare Verbrechen konzentrieren sollen

taz: Sie haben die Verhandlung gegen Slobodan Milošević vor dem UN-Tribunal in Den Haag intensiv verfolgt. Wie beurteilen Sie das Verfahren?

Chris Stephen: Nach meinen Recherchen muss ich ganz einfach Chefanklägerin Carla del Ponte kritisieren. Sie hätte sich nicht darauf einlassen sollen, Milošević nicht nur wegen seiner Kriegsverbrechen im Kosovo, wo die Beweislage sehr gut ist, sondern auch in Bosnien und Herzegowina und in Kroatien anzuklagen. Denn in beiden letztgenannten Fällen hat man die Beweisführung ziemlich unsystematisch angelegt. Die Anklage hat gravierende Fehler gemacht.

Was genau wurde denn falsch gemacht?

Viele der für die Beweisführung notwendigen Zeugen konnten trotz der Verhandlungslänge nicht an dem Verfahren teilnehmen. Es fällt der Anklage schwer, die Befehlskette für den Genozid in Bosnien nachzuweisen. Milošević hat nämlich seine Befehle individuell an einzelne Personen gegeben. Und die sagen meistens nicht aus. Wenn doch, dann konnte Milošević die Gespräche einfach ableugnen. Ich stelle damit nicht die Verbrechen Milošević’ in beiden Ländern in Abrede, ich sage nur, die Anklage befindet sich mit ihrer Beweisführung auf unsicherem Terrain. Wenn es hundert Verbrechen gegeben hat, hätte es genügt, drei nachzuweisen, um ihn zu verurteilen. Del Ponte aber will alle hundert Verbrechen nachweisen, das kann so nicht gelingen. Und damit wird die gesamte Prozedur fragwürdig.

Also hat Del Ponte die Vorlage für Milošević’ Verteidigung selbst geliefert?

Natürlich. Der kennt seine Rechte, kennt die Schwächen der Anklage und versucht das Ganze für seine Propagandazwecke auszunutzen. Das ist auch sein Recht. Er tut, was er kann. Und er spielt angesichts seiner Krankheit auf Zeit.

Halten Sie ihn denn wirklich für so krank, wie er behauptet?

Das kann man nicht mit Gewissheit sagen. Sicher ist aber, dass Milošević im normalen Alltag nicht krank ist. Wenn er aber vor Gericht steht und sich selbst verteidigt, hat er nachweislich zu hohen Blutdruck und kann deshalb immer wieder verlangen, den Prozess zu unterbrechen. Und dann hat er immer wieder die Möglichkeit, die gesamte Prozedur hinauszuzögern.

Das Gericht will ihm doch einen Rechtsanwalt zur Seite stellen?

Sich selbst zu verteidigen ist sein Menschenrecht. Der Vorschlag, ihm einen Rechtsanwalt aufzuzwingen, führt nicht unbedingt weiter. Denn dieser Rechtsanwalt müsste sich erst durch die gesamten Aktenberge quälen und bräuchte dann viel Zeit. Das würde eine Prozessunterbrechung von mindestens drei Monaten bedeuten, wenn nicht sogar länger. Dann müsste der Rechtsanwalt Entlastungszeugen finden. Milošević wird aber mit ihm nicht kooperieren. Der Anwalt wird in Belgrad auflaufen, also nicht erfolgreich sein.

Wieso sind Sie sich da so sicher?

Milošević kann nach wie vor Leute in Belgrad beeinflussen. Er verfügt nämlich über sechs Rechtsanwälte, die ständig in Den Haag anwesend sind und ihn beraten. Sie haben jederzeit Zugang zu ihm, selbst am Abend. Das ist auch eine der Ungereimtheiten im Prozess. Seine Helfer füttern ihn mit Informationen, beraten ihn in seiner Verteidigungsstrategie und halten Kontakt zu Belgrad.

Wie sieht die Verteidigungsstrategie in groben Zügen aus, wie wird er vorgehen? Nun darf Milošević ja seine Zeugen benennen.

Er wird jetzt den Aufruf von 1.631 Zeugen durchsetzen wollen – unter ihnen Tony Blair, Bill Clinton und Jacques Chirac. Das sprengt alle Vorstellungen. Sollte er Spitzenpolitiker wie Blair in den Zeugenstand holen, wird er versuchen, Gegenanklagen wegen der Bombardierungen in seinem Heimatland 1999 zu erheben und so in der serbischen Öffentlichkeit zu punkten. Etwas anderes wird dabei nicht herauskommen, so jedenfalls meinen es einige Juristen und Kritiker innerhalb des Gerichts von Den Haag.

Das Gericht steckt also in einer Zwickmühle?

Ja, zumindest ist eine verzwickte Lage eingetreten. Sollte sich Milošević weiterhin selbst verteidigen können, wird er die ihm gewährten 150 Verhandlungstage voll ausnützen und dem Gericht seine Strategie aufzwingen, was also die Verzögerung des Verfahrens bedeutet. Wird ihm ein Rechtsanwalt zugeteilt, wird Milošević alles tun, um ihn zu blockieren. Kann der aber seine Aufgabe nicht richtig wahrnehmen, entsteht der Eindruck eines irregulären Verfahrens. Vor allem dann, wenn der Genozid in Bosnien und Kroatien nicht nachgewiesen werden kann, kann das gesamte Verfahren zu einem Propagandaerfolg für den Angeklagten verkommen. Das Gericht hat sich zudem einige Ungereimtheiten geleistet, die Angriffsflächen bieten. So wurde der Richter David Tolbert im Laufe des Verfahrens zum stellvertretenden Ankläger ernannt. Das ist ein Skandal, das geht einfach nicht.

Wenn dieser scheitert: Was würde das für andere Kriegsverbrecherprozesse bedeuten?

Das wage ich gar nicht zu denken.

INTERVIEW: ERICH RATHFELDER