Ein Türkeibericht mit großen Lücken

Unabhängige Kommission legt in Brüssel ihre Einschätzung über die EU-Reife der Türkei vor. Nicht eingegangen wird dabei auf Menschenrechtslage und wirtschaftliche Folgen. Für den Beitritt sprechen Größe und geopolitische Lage des Landes

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

„Pacta sunt servanda“ lautet die zentrale Botschaft der unabhängigen Türkei-Kommission, die gestern in Brüssel ihren Bericht vorlegte. „Verträge müssen eingehalten werden“ – und da der Türkei auf dem Helsinki-Gipfel 1999 Beitrittsverhandlungen versprochen wurden, müssen sie nun auch beginnen. Lediglich das Urteil der EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht Anfang Oktober sei abzuwarten.

Der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari hatte die Idee, andere Elderstatesmen um sich zu sammeln, um die Beziehungen der Türkei zu Europa abseits der politischen Tagespolemik zu beleuchten. Er habe sich moralisch zu der Initiative verpflichtet gefühlt, da unter seiner Präsidentschaft das Versprechen an die Türkei erneuert worden sei, für sie würden dieselben Spielregeln gelten wie für alle anderen Kandidatenländer.

Diese moralische Verpflichtung haben die Mitautoren des Berichts sich zu Eigen gemacht – darunter Sachsens Ex-Ministerpräsident Biedenkopf, der ehemalige holländische Außenminister Van den Broek, Polens früherer Außenminister Geremek und Frankreichs Ex-Premier Rocard. Ihre Botschaft lautet ohne Umschweife: Die Türkei gehört zu Europa.

Dabei sparen sie zwei zentrale Fragen völlig aus. Ob Ankaras Reformpolitik tatsächlich dafür gesorgt habe, dass die Menschenrechte und Minderheitenschutz gewährleistet seien. Das zu beurteilen sei Aufgabe der EU-Kommission. Und welche wirtschaftlichen Auswirkungen der Beitritt eines Bevölkerungsriesen haben wird, der gleichzeitig auf lange Frist ein ökonomischer Zwerg bleibt, könne zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorausgesagt werden.

Offensichtlich sei aber, dass die junge und dynamische Bevölkerung des Landes eine Chance für den Wirtschaftsstandort EU und einen Ausgleich für die überalterte Bevölkerung in Mitteleuropa bedeute.

„Ängste in der Bevölkerung vor jeder Veränderung sind nichts Neues“, erinnerte Martti Ahtisaari. „So warte ich bis heute, dass ein Deutscher kommt und mir einen guten Preis für meine Laube bietet. Denn dieser Ausverkauf unserer Ferienhäuser wurde beim EU-Beitritt Finnlands befürchtet.“

Der Bericht fasst in einfachen Worten zusammen, wie sich der Blick der europäischen Entscheidungsträger auf die globalisierte, vom fundamentalistischen Terror bedrohte Welt verändert hat. Die Sorge, sich mit einer Türkei-Mitgliedschaft unlösbare wirtschaftliche Probleme einzuhandeln und eine Erosion der humanistischen Wertegemeinschaft hinzunehmen, tritt in den Hintergrund. Es ist nun gerade ihre Größe und ihre geostrategische Lage, die die Türkei so attraktiv für Europa machen. Größe wird gleichbedeutend gesehen mit mehr Gewicht in der Welt und mit mehr Marktmacht. Und die Integration von 80 Millionen Muslimen in eine Gemeinschaft von bislang 430 Millionen überwiegend christlichen Mitgliedern wäre ein Signal an den arabisch geprägten Teil der Welt, dass das europäische Toleranz-Modell auch für Muslime attraktiv sein kann.

In ihrer Suche nach gemeinsamen Wurzeln greifen die Autoren bis in die Antike zurück: Zur Türkei gehören demnach Orte wie Troja, Pergamon, Ephesus und der Berg Ararat, an dem Noahs Arche zerschellte. Wahrscheinlich war keinem der Autoren gegenwärtig, dass der Berg Ararat nicht nur biblische Symbolkraft beinhaltet. Den Armeniern in aller Welt ist er heilig. Den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern vor 89 Jahren leugnet die Türkei bis heute.