Die Fußstapfen der Nase (1)

Das große Wahrheit-Abc für alle Menschen und Nebenmenschen

Alltag Das graue Kleid des Lebens, aus dessen Falten ab und zu bunte Läuse hüpfen. Eine Badewanne namens Realität, die vor Vergnügen zappelt, wenn am Wochenende ein Stück Seife in ihr herumflutscht. Eine brettflache Ebene, die sich im Urlaub hochkant stellt. Eine Welt, wo selbst die Abwechslungen sich ähneln wie eine Metapher der nächsten. Und wenn Sie meinen, dass das 80 Jahre lang so geht: Ja, irgendwann ist der Teller leer.

Anpassung Ein Vorgang, der den Menschen in ein nützliches Teil von Wirtschaft und Gesellschaft umwandelt und auf der Einsicht gründet, dass es im eigenen Leben weniger auf einen selbst ankommt als auf die äußeren Verhältnisse. Schon Ambrose Bierce empfahl daher jedermann, dass er „danach strebe, dem durchschnittlichen Menschen ähnlicher zu sein als sich selbst“.

Aufrichtigkeit Das Merkmal des Beleidigers. Gewöhnlich wäscht ein Auge das andere. Aber manchmal nimmt ein Schnabel keinen Mund vor die Hand und spricht, wie ihm die Krähe gewachsen ist. Hinterher, wenn kein Stein dem anderen mehr gute Nacht sagen kann, ist die Zunge klüger geworden und nimmt wieder die kurzen Beine auf die Schulter. Bis sie ihr irgendwann einmal zum Hals raushängen und der Schnabel keinen Mund vor die Hand nimmt und …

aufwachen Sich zu allerlei Fehlern und Dummheiten bereitmachen.

Besucher Jemand, der ausgerechnet dann vor der Tür steht, wenn man zu Hause ist.

Charakter Einem geistreichen Bonmot zufolge ist Charakter „die erste Hürde im Berufsleben“. Bei aller gebührenden Wertschätzung für dieses kluge, aber unzutreffende Aperçu wage ich, anmerken zu dürfen, dass er in der Regel die letzte ist.

Egoismus Eine Krankheit, die kleine Kinder befällt, sich in der Jugend verschlimmert, beim Erwachsenen chronisch wird und im Alter zur Vollendung gelangt; heilbar durch den Tod.

Ehe Beliebtes Motiv für Gattenmord.

Ehre Eines der angenehmen Gefühle, das die Einbildung gewährt. Der Sahnekringel auf der Persönlichkeit. Mayonnaise fürs Selbstbewusstsein. Lorbeerkranz, der Eitelkeit überreicht vom Dünkel. Händedruck für einen Charakter, der zu einem Siebtel sichtbar ist.

Ehrgeiz Der Vater des Misserfolgs.

einfach Ein Modewort, das einfach schwierig zu vermeiden ist.

Eitelkeit Der Stolz auf jemanden, den wir nicht mögen.

Erbgut Eine Substanz, die des Menschen Aussehen bestimmt, seine Fähigkeiten vorzeichnet, seinen Charakter konditioniert, seinen Lebensweg prägt und ihm die Vorstellung eingibt, er sei frei.

Eremit Derjenige, der die Einsamkeit stört.

Ernst Der Nachbar der Routine, zwei Schritt entfernt vom Stumpfsinn; der Nährboden der Lächerlichkeit.

Erziehung Der Versuch, die Fehler der Natur auszuräumen, um Platz für die Laster der Zivilisation zu schaffen.

Feigling Jemand, der die Verwegenheit besitzt, nicht dem Feind die Stirn zu bieten, sondern den Erwartungen seiner Umgebung zu trotzen. Mutig verachtet er die Schande und wirft die kalten Füße ins Korn, entfärbt seine Flinte und verdünnisiert sich ins Reißaus, zieht wild entschlossen Leine und stürmt nach Hause, wo er die Stellung in der Heia hält. Dort träumt er dann vom Krieg.

feindselig Ehrlich, stark und unabhängig.

Flexibilität Eigenschaft des Mannes ohne Eigenschaften.

Frau Spezies, von der man Kinder erntet. Der Zwischenwirt für die nächste Generation. „Als Gott den Mann erschuf, übte sie nur“, behaupten radikale Feministinnen, aber das würde, bei allem schuldigen Respekt vor diesen verdienstvollen, aber ahnungslosen Propagandisten, auch bedeuten, dass in Gottes Schöpfung nicht mehr der Mensch das Letzte, sondern die Frau das Allerletzte wäre. Wer immer also diesen Aphorismus schuf, sie sollte noch ein bisschen üben.

Freund Jemand, dem man ein Unglück erzählen oder eine Schwäche offenbaren kann und der dazu nicht mehr als in den Mundwinkeln lächelt. Eine Person, die man nicht gut genug kennt. Einer, der zu deiner Beerdigung kommt.

Furcht Die weitsichtige Schwester der Hoffnung.

Georg, heiliger Der Schutzpatron des Ehemanns. Er tötete den Drachen.

Genuss Einübung in den Überdruss.

Gesellschaft Ein Zusammenschluss von Individuen, deren jedes so zu sein vorgibt, wie es glaubt, dass der andere will, so zu sein, wie es wäre, wenn … – nein, anders: Eine Vereinigung von Einzelwesen, deren jedes so weit auf sich selbst verzichtet, dass es mit den anderen, die so weit auf sich selbst verzichten, damit die anderen, die so weit … – nee, auch nicht. Aber was ist nun Gesellschaft? Ein Ganzes, das weniger ist als die Summe seiner Teile.

Gerücht Eine reizvolle Nachricht über einen Freund und eine dreiste Lüge über einen selbst.

Glück Ein Zustand, der die Erinnerung an die Vergänglichkeit allen Glücks wachruft.

gütig Gefällige Bezeichnung für jemanden, der gefällig ist.

PETER AMBROSIUS KÖHLER

Fortsetzung des Wahrheit-Abc morgen