Sitzenbleiben nun doch nicht so toll

Ein forscher Wirtschaftswissenschaftler versucht die Szene der deutschen Schulforscher mit steilen Thesen aufzumischen. Nun muss er zugeben, dass nur Spätentwickler die Ehrenrunde cool finden – und das sind bloß 20 Prozent aller Sitzenbleiber

VON CHRISTIAN FÜLLER

So viel musste der 34-jährige Wirtschaftswissenschaftler hinterher wohl noch nie erklären. „Na ja“, sagt Michael Fertig nun der taz, „Sie wissen ja, dass man die Quintessenz für die Öffentlichkeit sehr pointiert zusammenfassen muss.“ Der Forscher hatte die Aussagen von 2.500 Befragten zur Grundlage einer Untersuchung gemacht. „Sitzenbleiben nützt den Schülern“, hieß der Titel der Pressemitteilung, die im ganzen Land für Aufsehen sorgte. Wie wild druckten die Zeitungen die Nachricht in den vergangenen Tagen ab.

Mündlich hört sich die Fertig’sche „Sitzenbleiben ist geil“-These viel weicher an. „Entgegen der allgemeinen Vorstellung“, so erläutert der junge Forschungskoordinator des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen, „kann Sitzenbleiben einer Teilgruppe der Betroffenen etwas bringen.“ Und zwar gehe es um solche Schüler, die sich im Nachhinein als Spätentwickler charakterisierten. Es handele sich dabei um 20 Prozent von insgesamt 300 Sitzenbleibern, deren Daten Fertig untersucht hat. „Ich würde das nicht so hoch hängen und sagen: Sitzenbleiben ist perfekt“, meint Fertig.

Das wäre denn auch ein bisschen starker Tobak. Gundel Schümer, die reputierlichste Forscherin auf dem Gebiet des Sitzenbleibens, ist ohnehin irritiert. „Ich weiß nicht, was die Studie mit ‚nützen’ meint“, sagt die Frau vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „Was nützt es denn einem Schüler, wenn er ein Jahr verliert? Und was soll uns die Nutzen-These sagen, wenn Schüler anderer Länder viel bessere Ergebnisse erzielen, obwohl es dort gar kein Sitzenbleiben gibt?“

Die Max-Planck-Forscherin Schümer, die sich in diesen Tagen in einem Aufsatz erneut ausführlich mit dem Sitzenbleiben befassen wird, zeigt in ihren bisherigen Studien ein ganz anderes Bild des Sitzenbleibens. Es handle sich um ein „Misserfolgserlebnis, das prinzipiell schwer zu verarbeiten ist“. Das gelte, selbst wenn sich ein Teil der hängengebliebenen Schüler zunächst vom Leistungsdruck befreit fühle. Auch der Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus-Jürgen Tillmann sieht Schulversagen „fast immer mit massiven Identitätsproblemen verbunden“.

Und das Scheitern gehört zur deutschen Schule wie das Lehrerpult oder der Pausengong. 250.000 Schüler sind jährlich in Deutschland vom Sitzenbleiben betroffen. 40 Prozent der Schüler erleben einmal oder sogar mehrmals in ihrer Bildungskarriere einen einschneidenden Knick. Sie werden in die Sonderschule gesteckt (3,5 Prozent), sie werden von der Einschulung zurückgestellt (10 Prozent), sie bleiben sitzen (24 Prozent), oder sie steigen in eine andere Schulform ab.

Hier liegt auch die Crux der Untersuchung von Michael Fertig. Aus seiner Studie ist nicht erkennbar, wie viele Gymnasiasten sich unter seinen 300 Sitzenbleibern befanden. Obendrein lässt sich nicht nachvollziehen, ob das Versagen mit einem Wechsel der Schulform einherging. Diese „Schulformblindheit“ kann die Kernaussage des Forschers verzerren: dass sich Sitzenbleiben „positiv bezüglich des später erzielten Schulabschlusses auswirkt“.

Aber für den Inhalt der Studie scheint der Essener ohnehin wenig Engagement zu zeigen. Fertig ist ein Forscher, der Vorurteile aufgreift, um sie gegen den Strich zu bürsten. Er spürt zunächst gängige Klischees in der Gesellschaft auf – und prüft sie dann, wenn er entsprechende Datengrundlagen hat, auf ihre Stichhaltigkeit. So widerlegte er in seiner Dissertation mit gängige Behauptungen zur Zuwanderung („Zuwanderer belasten das soziale Netz“) – und gewann prompt einen Preis der renommierten Leibniz-Gesellschaft.

So hat es Fertig jetzt wieder gemacht. Und im Resümee gleich „ein paar Einschränkungen“ angebracht. Denn: „Es ist nicht möglich festzustellen, wie erfolgreich Sitzenbleiber ihre Abschlussprüfungen bestritten haben.“ Selbst die Pointe der Studie wackelt damit.

Mitarbeit: Florian Hollenbach