Schwänke aus dem chinesischen Schilda

Pekings „sechste Generation“: Mit schroffen, wirklichkeitsnahen Filmen haben chinesische Underground-Regisseure internationalen Ruhm erlangt. Nun suchen sie Anerkennung auch im eigenen Land – und sind dafür bereit, sich den offiziellen Zensurbehörden zu stellen. Skizzen eines Experiments

In einem Land, in dem DVD-Raubkopien für einen Euro den Markt beherrschen, hat es auch der unabhängige Film schwer

VON SUSANNE MESSMER

„Dann gehe ich eben wieder dahin, wo ich herkomme“, erwidert Liu Hao auf die Frage, was passiert, wenn er mit seinem Film nicht durch die Zensur kommt. „Ich gehe wieder in den Untergrund“, sagt er und lacht. Als es so in seinen Augen blitzt, da wundert man sich: Ist er, einer der erfolgreichsten und interessantesten jungen Filmemacher aus China, wirklich so zuversichtlich? Oder überbrückt er das lange Warten auf die Genehmigung seines neuen Films nur mit schwarzem Humor?

Fast ein Jahr ist es jetzt her, dass das Filmbüro in Peking, die oberste Zensurbehörde des Landes, seinen Filmemachern versprochen hat, die Zügel zu lockern - wohl auch deshalb, weil die ehemals staatlichen Studios noch immer wenig Gewinn abwerfen. Viele Kollegen seines Alters – die so genannte sechste Generation der Pekinger Filmakademie – entschieden wie Liu Hao.

Bedenkt man, mit welchen Filmen diese um die dreißig Jahre alten Regisseure berühmt wurden, ist das eine Sensation. Seit Beginn der Neunzigerjahre drehen Filmemacher wie Zhang Yuan, Wang Xiaoshuai, Jia Zhangke, aber auch Nachzügler wie Liu Hao und viele andere auf eigene Faust, ohne Förderung und Erlaubnis – und gehören damit zu den ersten Kunstschaffenden in China, die nicht in staatlichen Verbänden organisiert sind.

So entstand eine neue Welle wirklichkeitsnaher, schroffer und dynamischer, mit eigener DV-Kamera gedrehter Filme über verdrängte Themen wie krasse Armut auf dem Land, Abwanderung in die großen Städte, Prostitution, Homosexualität und die ökonomische Perspektivlosigkeit einer Jugend, die mit den Botschaften der internationalen Popkultur aufgewachsen ist und sich in der chinesischen Gesellschaft umso einsamer und isolierter fühlt.

Diese Filme, die manchmal an Neorealismus, manchmal an die dänische Dogma-Schule erinnern, dürfen in China nicht gezeigt werden. Sie zirkulieren auf raubkopierten DVDs, haben ihren Machern aber auf internationalen Festivals und in eingeweihten Kreisen in China einen Kultstatus verschafft. „Genehmigte“ Filme wie die der fünften Generation dagegen, die von Zhang Yimou oder von Chen Kaige, verblassen neben diesen jungen Filmen, sie wirken linientreu und langweilig.

Liu Hao, der im letzten Sommer beschloss, erstmals den offiziellen Weg zu versuchen und seinen zweiten Film so zu machen, dass er auch in China gezeigt werden darf, sieht für sich und seine Kollegen keine Gefahr, dass sie sich ähnlich entwickeln könnten wie ihre älteren Kollegen, die einmal kritisch begannen, sich dann aber einschüchtern und kaufen ließen. Anfang des Jahres gab er das Drehbuch ab – zu seiner Überraschung wurde es durchgewunken. Jetzt hat er den fertigen Film abgegeben und wartet auf den Entscheid, ist aber recht zuversichtlich. Das ist erstaunlich, denn sein zweiter Film mag leiser sein als sein erster, inoffizieller. Er ist aber auch viel unbequemer.

Es wirkt beinahe surreal, als Liu Hao im schicksten Café Pekings, einer italienischen Bar mit Terrasse und Sonnenschirmen, von seinem Film zu erzählen beginnt: Der Bauer De Shan ist arm, aber zufrieden. Eines Tages beschließt ein hoher Offizieller, ihm zu helfen und gegen gute Bezahlung zwei wertvolle Schafe in Pflege zu geben. Das Problem: Diese neuen Tiere stammen nicht aus China, sind weder an das raue Klima des Landes noch an das karge Futter gewöhnt. Ein absurder Wettlauf um das Wohlergehen der Schafe beginnt.

Mag sein, dass der Sisyphuskampf des De Shan zunächst harmlos wirkt – wie ein Schwank aus dem chinesischen Schilda im Vergleich mit der hoffnungslosen Liebesgeschichte zwischen dem Blumenverkäufer und der Prostituierten „Chenmo and Meiting“ – ein Film, der auch im Ausland auf großen Beifall stieß. Doch wirkt der Bauer in seiner Unterwürfigkeit derart tragikomisch, dass die Behörden, die ihm das antun, mehr als blöd dastehen. Warum der Film womöglich trotzdem durch die Zensur kommt? Das weiß Liu Hao nicht.

Auch wenn der Regisseur Zhu Wen nie Film studiert hat und auch wenn er sich nicht zur sechsten Generation zählt, weil er ein paar Jahre älter ist: Mit den meisten jungen Filmemachern teilt er, der als Schriftsteller begann, die Entscheidung, jetzt aus dem Untergrund aufzutauchen. Während sein erster Film „Seafood“ von vor drei Jahren nur im Westen gezeigt werden konnte, hat er seinen zweiten, „South Of The Clouds“, durch die Zensur geschickt und sogar Änderungswünsche der Behörden befolgt, um endlich in China anzukommen.

Bei einem Treffen in den modernen Büroräumen seiner kleinen, unabhängigen Produktionsfirma – einer der ersten in China – plaudert Zhu Wen offenherzig darüber, ob die Zensur seinen Film, der im Winter fertig wurde und im Westen schon hier und da zu sehen war, verändert hat. „South Of The Clouds“ ist ein poetischer Film über einen alten Mann in einer Industriestadt irgendwo im Norden, der, gerade in Rente, noch einmal sein arbeitsreiches Leben überdenkt. Nach und nach stellt sich heraus: Vor Jahrzehnten hätte er eine Arbeit im Süden annehmen können, lernte dann aber seine spätere Frau kennen und blieb hängen. Jetzt plant er eine Reise in diese Gegend, um endlich seinen Sehnsuchtsort zu sehen. Doch diese Reise gestaltet sich schwieriger als gedacht.

Grinsend berichtet Zhu Wen vom ursprünglichen Drehbuch seines Films und wie er es ändern musste. Er erzählt: Im ersten Drehbuch kommt sein Held wegen Kontakt zu einer Prostituierten ins Gefängnis. Im jetzigen Film steht er nur noch unter Hausarrest und darf das Hotel nicht verlassen – ein Bild, das die Universalität seiner Gefangenschaft viel besser ausdrückt, findet Zhu Wen. Änderungen wie diese haben dem Film nicht geschadet, sagt er. Im Gegenteil: Wenn er es schafft, den Kampf mit der Zensur als Spiel aufzufassen, dann hilft ihm das manchmal sogar das zu finden, was er wirklich sagen will.

Nicht die Zensur ist das Problem des chinesischen Films, findet Zhu Wen, sondern dass es in China keine Infrastruktur für den anspruchsvollen Film gibt. Darüber beklagt sich auch Geng Ling, Zhu Wens Produzentin, die sich inzwischen zu uns gesellt hat. Hauptsächlich arbeitet sie bei einer international operierenden Firma für Postproduktion, der China Film Assist. Jetzt hat sie die Hälfte der Investitionen für Zhu Wens zweiten Film übernommen und sich als selbstständige Produzentin ausgegliedert. Geng Ling gehört zu den Pionieren des neuen chinesischen Films – außer Liu Haos Produktionsfirma Kwans, eine an die Peking University angedockte Computer- und Produktionsfirma, gibt es kaum kleine Unternehmen, die sich an anspruchsvolle Filme wagen. „In einem Land, in dem raubkopierte DVDs weniger als einen Euro kosten und Kinokarten mehr als fünf, muss man sich sein Publikum erst noch formen“, sagt sie.

Dazu ist jedoch noch kaum jemand bereit. Im Augenblick findet sie zum Beispiel keinen chinesischen Vertrieb für Zhu Wens Film. Vielleicht gründet sie also selbst bald einen, sagt sie schmunzelnd. „Wir sind die Versuchskaninchen dieses Marktes“, stimmt ihr Zhu Wen zu.

So weit wie Zhu Wen sind allerdings nicht alle jungen Regisseure in China. Bei einer Kanne grünen Tees erzählt der Filmemacher Wang Chao anderntags, dass er anders als Zhu Wen noch weit davon entfernt ist, über zweite und dritte Hürden nachdenken zu können. Er ist an der Zensur gescheitert. Wie seine Kollegen konnte er seinen ersten Film „The Orphan Of Anyang“, einen traurigen Film über eine Prostituierte, die ihr Kind einem arbeitslosen Fabrikarbeiter anvertraut, nur im Westen zeigen. Wie diese entschied er im Sommer letzten Jahres, seinen nächsten Film durch die Zensur zu jagen – wie bei diesen beiden wurde sein Drehbuch genehmigt.

Doch anders als Zhu Wen und womöglich auch bald Liu Hao kann Wang Chao mit den vielen Änderungswünschen des Filmbüros nicht leben: Sein neuester Held, ein Minenarbeiter, der seinen Meister verrät und Jahre später auch dessen Sohn, erscheint den Behörden zu negativ. Er möge doch einen Fehler weniger machen, lautet der Vorschlag. Ob da tatsächlich noch die Doktrin des positiven Helden im Spiel ist? Wang Chao weiß es nicht. Er weiß nur, dass er keine Kompromisse machen will. Hätte er gewusst, wie die Zensurbehörden auf seinen neuen Film reagieren, er hätte diesen Umweg gar nicht genommen, sagt er. Dabei wirkt er amüsiert, aber auch ein bisschen verzweifelt.

Ein anderer Filmemacher, Pan Jian Lin, der in diesem Jahr seinen ersten Film im Internationalen Forum des jungen Films im Rahmen der Berlinale präsentierte, sieht das sogar noch radikaler: Er weiß schon jetzt, dass er sich niemals auf staatliche Vorgaben einlassen wird. Filme müssen wahr sein und rein, erzählt er im exquisiten privaten Teehaus, in das er geladen hat.

Dieser Ort gehört einem Freund, einem bekannten Wahrsager, der ihn und seine Arbeit finanziell unterstützt. Pan Jianlin ist weit davon entfernt, von seiner neuen Berufung leben zu können. Der Regisseur, dessen Film von der brutalen Vergewaltigung eines jungen Mädchens erzählt, versucht, seinen bitteren Pessimismus ein wenig zu erklären: Er erzählt vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, auf dem er 1989 demonstrierte. Wie viele Filmemacher seines Alters ist er stark beeinflusst von diesem Ereignis und der depressiven Zeit danach, in der jede Aufbruchstimmung zerschlagen war, in der man aber auch nicht mehr mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten konnte.

Nach Stunden intensiven Erzählens fährt uns Pan Jianlin ins karge Büro des befreundeten Jia Zhangke, dem Filmemacher der sechsten Generation, auf den sich alle jungen Regisseure in China emphatisch beziehen. Bevor es zum gemeinsamen Restaurantbesuch weitergeht – eine schöne Sitte, die in China nach jedem Arbeitstreffen ansteht –, lässt sich Jia Zhangke noch auf eine halbe Stunde Fragen ein. Er steckt gerade in den letzten Arbeiten an seinem neuen, seinem vierten langen Film, der dieser Tage auf den Filmfestspielen in Venedig läuft. Wie die meisten seiner Kollegen hat auch er sich erstmals für die offizielle Gangart entschieden, und anders als Pan Jianlin sieht er die Zukunft eher rosig.

Sein neuer Film erzählt von Jugendlichen, die aus allen Regionen Chinas kommen und in Peking hier ihr großes Glück probieren. Es geht um eine Tänzerin in einem Park und einen Parkwächter und eine Liebesgeschichte ohne Liebe, erzählt Jia Zhangke, will aber so kurz vor Venedig nicht allzu viel verraten. Nur dies: Während bisher all seine Filme in der Provinz spielten, in seiner Heimatstadt und von den Jugendlichen dort, die nichts haben als freie Zeit, so geht es nun um die, die aufgebrochen sind in die Stadt und trotzdem nicht weiter kommen. Er sagt: „Sollten mir die Zensoren Szenen rausschneiden wollen, ich würde das nicht akzeptieren.“ Er sagt das so selbstbewusst, dass man ihm einfach glauben muss.

Noch während des Interviews hat Jia Zhangke, der etablierteste seiner Generation, in seinem dunklen Büro im Souterrain eines hässlichen Wohnblocks aus den Fünfzigern Kaffee gekocht. Schon mitten im Aufbruch zum Restaurant zählt er schließlich noch schnell seine zukünftigen Projekte auf: einen Film über Kohlearbeiter im November, einen über Schanghai in den Dreißigerjahren im nächsten Jahr. Jia Zhangke fließt so über vor Energie, dass keine Zweifel aufkommen: Einen wie Jia Zhangke kann keine Zensurbehörde der Welt ausbremsen. Einer wie er wird immer brillante Filme machen, ob im Untergrund oder offiziell.