und sonst?
: Die unbekannten Berliner

In Berlin, so wird geschätzt, leben 220.000 Muslime, die weitaus meisten von ihnen stammen aus der Türkei. Anders als Katholiken und Protestanten werden sie statistisch nicht erfasst. Denn die Muslime sind keiner Moschee klar zugeordnet, ihre Dachverbände erhalten keine Kirchensteuern.

Die Muslime konzentrieren sich in den westlichen Innenstadtbezirken, die Situation in den Kiezen ist aber sehr unterschiedlich. Am Kottbusser Tor zu Beispiel ist der Islam viel stärker präsent als im Wrangelkiez. Denn im Umfeld des Kottbusser Tors haben sowohl die Islamische Föderation Berlin (IFB) als auch die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) ihren Hauptsitz.

Im Soldiner Kiez im Wedding ist die Atmosphäre wieder anders: Hier ist der Islam die dominierende Religion, Gegenbewegungen im Sinne von Alternativkultur oder einer Kneipenszene gibt es nicht. Vier Moscheen stehen hier zwei christlichen Kirchen gegenüber. „Zum Sonntagsgottesdienst kommen gut hundert ältere Frauen, zum Freitagsgebet 450 Männer.“ So beschreibt Quartiersmanager Reinhard Fischer die Situation.

Insgesamt gibt es derzeit knapp 80 Moscheen in der Stadt, meist in umgebauten Fabriketagen und Hinterhöfen. Architektonisch sind sie von außen nicht zu erkennen. Geht es nach den islamischen Dachverbänden, soll sich das bald ändern: Die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm, die zur Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) gehört, ist fast fertig gestellt. Andere Großprojekte von der Islamischen Föderation, dem Verein Inssan für kulturelle Interaktion und dem Islamischen Verein für wohltätige Zwecke sind in Planung.

Träger der Moscheen sind Vereine, von denen sich viele einem Dachverband angeschlossen haben. Die drei großen sind Ditib, der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und die Islamische Föderation (IFB). Ditib ist eine Gründung des türkischen Staates und wird von diesem stark beeinflusst. So werden die Imame der Ditib-Moscheen aus Ankara bezahlt. Der VIKZ hängt dem mystischen, streng traditionellen Islam an und legt besonderen Wert auf althergebrachte religiöse Erziehung von Kindern und Jugendlichen.

Die IFB bietet außer einem Dach für Moscheevereine auch islamischen Religionsunterricht an über 30 Grundschulen an, das hat sie durch alle Instanzen eingeklagt. Die IFB ist sehr umstritten, weil es enge Verflechtungen mit der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) gibt.

Diese Organisation wird vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuft – und zwar mit 3.700 Anhängern als weitaus größte islamistische Organisation der Stadt. Die IFB bestreitet die Verbindungen und ist sehr klagefreudig gegen Medien, die sich den Verflechtungen der beiden Organisationen widmen. Sie darf mit richterlichem Segen inzwischen aber als Tarnorganisation von Milli Görüs bezeichnet werden.

Genauere Informationen über die Berliner Muslime gibt es kaum. Nach einer bundesweiten Befragung des Essener Zentrums für Türkeistudien aus dem Jahr 2002 ist jeder dritte türkischstämmige Muslim in einem Moscheeverein organisiert. Fast drei Viertel aller organisierten Muslime fühlen sich von Ditib vertreten, nur drei Prozent sind in der IGMG organisiert.

Nach einer neuen Untersuchung des Zentrums hat die Bedeutung der Religion für die türkischen Einwanderer stark zugenommen. Im vergangenen Jahr bezeichneten sich 71 Prozent der in Deutschland lebenden Türken als religiös, das sind 14 Prozent mehr als noch im Jahr 2000. SABINE AM ORDE