Falsche Züge

Tiefe Abgründe und geschwätzige Geständnisse: „Das goldene Ei“ und „Kathys Tochter“,zwei Romane des niederländischen Schriftstellers Tim Krabbé

VON MARION LÜHE

Kaum zu glauben, dass diese beiden Bücher von ein und demselben Autor stammen. Wortkarg und streng durchkomponiert das eine, ausschweifend und bisweilen geradezu geschwätzig das andere. Und doch, eine Verwechslung ist ausgeschlossen: Tim Krabbé gibt es schließlich nur einmal. In den Niederlanden gilt der 1943 geborene Autor, der Vladimir Nabokov und J. D. Salinger zu seinen Vorbildern zählt und sich selbstbewusst als „der Tim Krabbé der niederländischen Literatur“ bezeichnet, längst als moderner Klassiker. Dass er nebenbei ein passionierter Schachspieler und Verfasser mehrerer Sachbücher zu dem Thema ist, merkt man seinen Geschichten an.

An die Eröffnung eines Schachspiels erinnert der Beginn des Romans „Das goldene Ei“, der 1984 erschien und gleich zweimal unter dem Titel „Spurlos“ verfilmt wurde. „Gleichmäßig wie Raumschiffe bewegten sich die Kabinen mit Touristen auf der langen, breiten Straße nach Süden. Der Abend begann die hügeligen Landschaften an der Autoroute de Soleil violett zu färben, das Band der Autos lichtete sich. Rex Hofman und Saskia Ehlvest waren schon zehn Stunden unterwegs und noch ungefähr eine Stunde vom Ziel ihrer ersten Etappe entfernt, einem Hotel in Nuits St. Georges, nicht weit von Dijon. Das lag zwar etwas neben der eigentlich logischen Route, aber Saskia fand, daß der Name den kleinen Umweg wert war.“ Ein kleiner Umweg nur, der sich aber ähnlich wie ein falscher Schachzug als fatal für den weiteren Verlauf des Spiels erweist. An der Autobahnraststätte verschwindet Saskia spurlos. Zunächst bleibt unklar, ob die junge Frau entführt oder getötet worden ist oder sich bloß versteckt hält. Mit wenigen Strichen zeichnet Krabbé das Psychogramm des von Schuldgefühlen geplagten Mannes, dessen anfänglicher Ärger über die Bummelei der Freundin in blanke Verzweiflung und schließlich Resignation umschlägt.

Acht Jahre später treffen wir Rex während seines Urlaubs in Italien. Inzwischen hat er eine neue Freundin, aber unterschwellig beherrscht die verschwundene Saskia noch sein Leben. Auf seine groß angelegte Anzeigenkampagne hin meldet sich ein Mann, der wichtige Informationen verspricht. Bis zuletzt scheint Rex noch Herr über seine Handlungen zu sein, und doch gelingt es ihm nicht, sich aus dem Strudel der Ereignisse, die er selbst in Gang gesetzt hat, zu befreien. Nüchtern und emotionslos schildert Krabbé das Böse, das wahllos zuschlägt und allein in sich selbst seine Begründung findet. Je weiter Rex in der Erkenntnis des entsetzlichen Verbrechens fortschreitet, desto mehr wird er selbst zum Opfer. Lähmende Langsamkeit liegt über dem Geschehen, und zugleich herrscht eine solche Spannung, dass man die Lektüre des kurzen, sprachlich aufs Äußerste komprimierten Psychokrimis kaum zu unterbrechen wagt.

Ganz anders der unverhohlen autobiografische Roman „Kathys Tochter“ aus dem Jahr 2002, in dem der Autor eine offenbar nicht lange zurückliegende Affäre mit der Tochter seiner einstigen Geliebten verarbeitet hat. Eines Tages erhält der Erzähler die E-mail einer jungen Frau namens Laura, mit deren jüngst verstorbenen Mutter er vor langer Zeit ein Verhältnis hatte. Die beiden treffen sich, reden und schlafen miteinander. In dem Versuch des alternden Schriftstellers, Laura anhand früherer Aufzeichnungen seine erste großen Liebe und die Ursachen ihres Scheiterns nahe zu bringen, lebt die eigene Erinnerung wieder auf. Gleichzeitig entspinnt sich zwischen dem Erzähler und seiner Zuhörerin selbst eine leidenschaftliche Beziehung, sodass die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion bisweilen verfließen. Trotz mannigfaltiger stilistischer Kunstgriffe und der Verschränkung verschiedener Erzähl- und Zeitebenen überwiegt der Eindruck mangelnder Distanz.

Insgesamt erscheint das Buch als das sehr persönliche Protokoll eines Verliebten, der mit geradezu buchhalterischer Präzision die Zahl der ausgetauschten E-Mails, der im Bett verbrachten Stunden und der Orgasmen seiner siebenundzwanzig Jahre jüngeren Geliebten festhält. Das ist gewiss nicht ohne Unterhaltungswert. Von dem tiefen Abgrund, der sich unter der Oberfläche seines frühen Romans auftut, ist in dem neuen Buch allerdings nichts zu spüren.

Tim Krabbé: „Das goldene Ei“. Aus dem Niederländischen von Susanne George. Leipzig 2004, Reclam Verlag, 141 Seiten, 14,90 Euro Tim Krabbé: „Kathys Tochter“. Aus dem Niederländischen von Susanne George. Leipzig 2004, Reclam Verlag, 255 Seiten, 18,90 Euro