Modernisierung wider Willen

Auf dem 45. Deutschen Historikertag in Kiel findet das Fach den Anschluss an die Gegenwart. Das Rahmenthema „Kommunikation und Raum“ erleichtert den Aufbruch aus der Provinz des Historikers in die Welt der Geschichte

Endlich wird die Geschichtswissenschaft modern. Noch auf dem letzten Historikertag in Halle an der Saale hatte sich das Fach der Gegenwart verweigert. Bockig wiesen die Professoren jede Kompetenz für Themen wie Terror oder neue Kriege von sich und verteidigten das Schrebergärtlein der deutschen Geschichte gegen die Zumutungen der Globalisierung.

Ganz anders diesmal in Kiel. An der Ostsee holten die Historiker nach, was sie jahrelang versäumten, hier drängte ans Tageslicht, was sich im Verborgenen längst vorbereitet hatte. Die großen Themen, die man im Klein-Klein der Wissenschaft zuletzt so schmerzlich vermisste, nun gab es sie plötzlich im Überfluss. Über die neue Weltordnung oder über transnationale Imperien diskutierten die Gelehrten, über die Geschichte der Mediengesellschaft wie über den „Kampf der Kulturen“ in der Spätantike.

Das Rahmenthema „Kommunikation und Raum“ erleichterte diesen Aufbruch aus der Provinz des Historikers in die Welt der Geschichte. Das Motto war allgemein genug, um der Vielfalt des Fachs Raum zu geben, und doch präzise genug, um die Kommunikation der Gelehrten in neue Richtungen zu lenken. Noch an den Details war der Wille zur Erneuerung abzulesen. So ersetzten die Veranstalter die altbackenen Jutetaschen, die sie auf früheren Tagungen verteilten, diesmal durch modische Umhängetaschen aus Kunststoff.

Zugleich demonstrierte dieser Historikertag eindrucksvoll, dass eine solche Öffnung – anders als von vielen Fachgelehrten befürchtet – keineswegs Anbiederung bedeutet. Aus ihrer historischen Erfahrung schöpften die versammelten Historiker eine Gelassenheit, die in spannungsreichem Kontrast zum schnelllebigen Zeitgeist stand. Regt euch nicht so auf, lautete stets die Botschaft, es ist alles schon mal da gewesen.

Selbst beim Thema Terror hielten sich die Historiker von jedem Alarmismus fern (siehe taz vom 16. 9.). Die Thesen des Politologen Herfried Münkler, der in mehreren Büchern gänzlich „neue“ Kriege beschwor, stießen in Kiel auf Ablehnung. Für die Bekämpfung des Terrorismus seien nicht Soldaten berufen, befand der Berner Militärhistoriker Stig Förster, sondern Polizisten und Geheimdienstler. Ansonsten empfahl Förster, dem Rat des spanischen Schriftstellers Xavier Marías zu folgen: Gelegentliche Attentate muss man eben ertragen, wie Spanien seit Jahrzehnten den ETA-Terror erträgt.

Ein bisschen weniger gelassen blickten die versammelten Historiker auf das Hegemoniestreben der USA. „Unbegrenzte Macht führt zu Hybris“, konstatierte der Heidelberger Zeithistoriker Detlef Junker. Nur der Aufbau einer „europäischen Gegenmacht“ könne dagegen helfen.

Das war dann schon das Höchstmaß an Alarmismus, zu dem sich die Wissenschaftler bereit fanden. Die Zukunft werde ohnehin nicht so sein, „wie wir sie uns heute vorstellen“, zitierte der polnische Historiker Jerzy Holzer seinen Landsmann Stanisław Lem – und zog damit das Resumee aller historischen Erfahrung.

Nicht einmal die Skandalisierung von Politik in der Mediengesellschaft vermag ein Historiker wirklich skandalös zu finden. Auch dieses Phänomen ist alles andere als neu, wie der Bochumer Zeithistoriker Frank Bösch zeigte. Sein beruhigender Befund: Nie gab es so viele Skandale wie in der Zeit um 1900, und damals erwiesen sie sich durchaus als Vehikel der Demokratisierung. Immerhin setzen sie eine funktionierende Öffentlichkeit voraus, die sich auf gemeinsame Normen verständigen kann.

Selbst ältere Epochen gewinnen auf einmal ungeahnte Aktualität. So erhielt der Althistoriker Mischa Meier einen Nachwuchspreis des Historikerverbands für seine Arbeit über den oströmischen Kaiser Justinian. Dessen Regierungszeit im 6. Jahrhundert nach Christus galt bislang als letzte Blütezeit des Imperiums. Meier zeigte jedoch, dass die Epoche – nicht anders als heute – trotz wirtschaftlichen Wohlstands von einer ausgeprägten Zukunftsangst geprägt war.

Auch räumlich weitete sich in Kiel der Blick der Historiker, ob es nun um „Europas Osten“ ging oder um „Die islamische Welt“, um den alten Orient oder die Geschichte Afrikas. Das hat paradoxerweise mit dem Ende der Nachkriegszeit zu tun. Die enge Fixierung auf die eigene Nationalgeschichte war auch eine Folge des Nationalsozialismus. Eine ausführliche Beschäftigung mit anderen Ländern, womöglich auch mit deren historischen Defiziten, wäre als Flucht vor der eigenen Verantwortung erschienen.

Inzwischen ist der Generationswechsel in der Geschichtswissenschaft weitgehend vollzogen. Anders als noch vor zwei Jahren in Halle wurde das Fernbleiben der älteren Prominenz nicht mehr als schmerzliche Lücke empfunden. Auf den großen Podien war ein Phänomen zu bestaunen, das es seit der Uni-Expansion der Sechziger- und Siebzigerjahren nicht gegeben hatte. Da referierten auf einmal junge Wissenschaftler in den Dreißigern, die schon einen Professorentitel trugen: keine Spur mehr von der dienenden Rolle des Assistenten, die dieser Altersgruppe bislang vorbehalten war.

Es ist das Instrument der Juniorprofessur, das diesen Wandel möglich macht. Derlei Uni-Reformen, zu denen auch die Einführung von Bachelor-Abschlüssen zählt, sind bei vielen Historikern so unbeliebt wie beim Normalbürger Hartz IV. Doch während die Verbandsvertreter auf den großen Podien noch zetern, werden die Neuerungen in vielen Fakultäten bereits eifrig praktiziert. Auch hierbei sind die Historiker moderner als ihr Ruf.

RALPH BOLLMANN