Ignorantes Jubelpack!

Eine Million Zuschauer werden den 35.000 Läufern beim morgigen Berlin-Marathon wieder so richtig auf die Nerven gehen. „Eins-zwei, eins-zwei!“ werden sie rufen, „Quäl dich, du Sau!“ auf Schilder schreiben. Und den Rest des Jahres sind sie noch schlimmer. – Eine Publikumsbeschimpfung

VON BERNHARD PÖTTER

Zugegeben – ich sah ein bisschen derangiert aus. Nach 15 Kilometern in der drückenden Hitze eines Samstagnachmittags im August stand ich schwitzend und dampfend im Park an der Wuhlheide. Gerade hatte ich den Super-GAU des Marathontrainings erlebt: Die Imbissbude, wo ich mir beim Laufen regelmäßig einen halben Liter Wasser kaufte, war geschlossen. Ich stand auf dem Trockenen. Und hatte noch 15 Kilometer Rückweg vor mir.

Auf einer Parkbank saß ein junger Vater und spielte mit seiner Tochter. Neben sich eine riesige Wasserflasche. Ich fragte höflich, ob ich etwas davon haben könnte. Er sah mich an und sagte: „Nein. Ich kenne Sie doch gar nicht.“

Irgendwie kam ich dann nach Hause. Sechs Wochen später lief ich den Marathon. Bei Kilometer 25 – ironischerweise direkt hinter einem Verpflegungspunkt – sah ich aus den Augenwinkeln einen Mann am Straßenrand, der dem wassergeizigen Vater aus dem Park extrem ähnlich sah. Er klatschte und schrie: „Klasse! Weiter!“ Ich überlegte kurz, ob ich ihm meinen halbvollen Wasserbecher vom Verpflegungsstand anbieten sollte.

Auch morgen stehen wieder ein paar hunderttausend Menschen an der 42-Kilometer-Strecke. Sie halten Plakate, auf denen steht: „Papa, gib alles!“, „Ihr riecht wie Sieger“ oder „Quäl dich, du Sau!“. Sie rasseln ihre Rasseln, trommeln ihre Trommeln und pfeifen in ihre Trillerpfeifen. Sie klatschen und schreien und singen. Die Stimmung beim Berlin-Marathon ist berühmt, und deshalb laufen 25.000 Menschen hier den Marathon. Nicht nur, weil die flache Strecke eine gute Zeit garantiert, sondern weil die Zuschauer dich anfeuern, über so manchen toten Punkt hinweg bringen und der Jubel dich ins Ziel tragen kann. Ohne das Publikum wäre ein Marathon nur ein ziemlich verrückter Lauf über 42,195 Kilometer. Die Zuschauer machen ihn zum Volksfest. Zum Gänsehaut-Event. Zur stundenlagen Open-Air-Party.

Nur: Es ist auch meine Party. Und die meisten der Zuschauer will ich da nicht sehen.

Ihr pöbelt und behindert uns!

Denn viele der Menschen, die uns morgen an der Strecke zujubeln, machen uns an den anderen 364 Tagen im Jahr das Läuferleben schwer. Sie drängeln, blockieren, pöbeln. Sie behindern uns, sie bedrängen uns, sie beleidigen uns, sie gefährden uns. Sie lassen ihre frei laufenden Köter nach unseren Waden schnappen. Wenn man sich beschwert, sagen sie: „Kannst dich ja selber an die Leine nehmen!“ Sie sitzen auf der Bank und rufen: „Eins-zwei, eins-zwei, schneller, lahmer Sack!“. Sie drängen uns mit ihren tiefer gelegten Breitreifen-Mountainbikes von den Waldwegen in die Büsche. Sie fahren uns mit ihren Inliner-Skates über die Zehen. Sie verpesten mit laufendem Motor alle Bereiche der Innenstadt für Läufer, die ein bisschen tiefer in die Lunge atmen. Sie nehmen beim Rechtsabbiegen weder auf Fußgänger noch auf Jogger Rücksicht – und wehe, man trabt bei Rot über die Ampel. Sie gehen an Sonntagnachmittagen zu sechst unterhakt spazieren, so dass sie noch die breitesten Parkwege ausfüllen und wir ins Unterholz ausweichen. Sie blasen uns den Rauch aus ihren Zigaretten in die Bronchien, wenn wir nicht die Luft anhalten – was beim Joggen immer schlecht ist. Sie setzen im Sommer ganze Grünflächen unter Grillsmog.

Eigentlich müssten sich zum Marathon nicht die Läufer qualifizieren, sondern die Zuschauer. Vielleicht mit einem Laufpass. Und wer sich übers Jahr disqualifizert hat, der muss zu Hause bleiben und den Lauf im Fernsehen verfolgen.

Wirklich sehen wollen wir an der Strecke nur zwei Arten von Menschen: Die ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen, die uns als Einzige das Wasser reichen können. Und die Familien und Freunde, die unter unserem Marathontraining zu leiden hatten: All die Frauen, Männer, Lebenspartner, all die pflegebedürftigen Eltern, die orientierungssuchenden Kinder und die streichelsüchtigen Haustiere, die wir monatelang vernachlässigt haben.

Wir sind kein Mainstream!

Denn sie haben eine Ahnung von dem, was das ungeliebte Jubelpack nie verstehen wird: Dass für uns der Marathonlauf zwar ein wichtiger Tag im Kalender ist – dass wir uns aber den wirklichen Kick nicht am letzten Wochenende im September holen. Sondern beim Nieselregen im November, beim Neuschnee im Februar, beim Matschtreten im April und beim Hitzelauf im Juli. Wenn irgendwo der Weg das Ziel ist, dann für den Marathonläufer und die Marathonläuferin – nicht im Wettkampf, wo es um Bestzeiten geht. Sondern beim Training. Bei den hunderten von Kilometern, die wir nach Dienstschluss, am Feierabend, vor Morgengrauen und beim Strandurlaub abhecheln. Wir trainieren nicht ein ganzes Jahr lang, um morgen nach drei, vier oder fünf Stunden durchs Ziel zu taumeln. Wir laufen, um zu laufen. Und genau dabei stören uns die Leute, die uns an einem Tag im Jahr vom Straßenrand „Hosianna“ zuschreien.

Denn unser run of life liegt quer zu dem, was man heute so tut. Auch wenn man in allen Parks über Jogger stolpert, wenn mehr oder weniger Prominente in der Zeitung ihre Joggingstrecken verraten, ja, selbst wenn es morgen auf Berlins Straßen anders aussieht: Wir sind nicht der Mainstream. „Der Unterschied zwischen einem Jogger und einem Läufer sind 42 Kilometer“, heißt es zu Recht. Im wirklichen Leben bewegt sich niemand auf seinen Füßen weiter als bis zum Klo. Das haben die Räder uns abgenommen. Kaum jemand schwitzt, pustet, rackert noch körperlich. Wenn man sich quält, dann im sauberen Fitnessstudio. Und niemand hört auf zu essen, sobald er satt ist.

Die mythische Überhöhung des Marathonläufers, die sich in den Medienberichten rund ums Thema Laufen darstellt, zeigt die Entfernung zwischen dem normalen Durchschnittsmenschen und dem sportbegeisterten Läufer. „Ich würde schon nach fünf Kilometern sterben“, ist der landläufige Kommentar, wenn man von seinen Trainingseinheiten berichtet. Die Begeisterung für die angeblich übermenschlichen Leistungen der Marathonis übersieht und verdeckt, dass jeder Mann und jede Frau, sofern sie gesund sind, innerhalb eines Jahres die Marathondistanz laufen kann, ohne sich bis aufs Blut zu quälen. Alles, was es braucht, sind ein paar vernünftige Laufschuhe, ein Trainingsplan, Motivation und eine Menge Zeit.

Doch wer den Läufer glorifiziert, stellt sicher, dass er sich selbst nicht in Frage stellen muss. Diese Frage wird umgekehrt an die Sportlerinnen und Sportler gestellt, die sich auf das Unternehmen Marathon einlassen: Warum tut ihr euch das an?

Ja, warum eigentlich? Weil es gut tut, mehr Appetit auf Trauben als auf Schokolade zu haben? Weil es ein schönes Gefühl ist, sich auf die Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers zu verlassen? Weil es uns reizt, unseren Körper so einzustellen, dass er auch nach 35 Kilometer weiterläuft, wenn eigentlich nichts mehr geht? Weil es so schön ist, wenn der Schmerz nachlässt? Oder weil wir gern Angeber-T-Shirts mit „Marathon Finisher“ tragen?

Esst ihr nur eure Bratwurst!

Die Gegenfrage müsste lauten: Warum tut ihr es euch an, nicht zu laufen? Warum wählt ihr Adipositas statt Adidas? Warum sitzt ihr auf dem Sofa, stopft Kartoffelchips in eure Bäuche und wundert euch über Kurzatmigkeit, Adernverkalkung und Herzverfettung? Wieso trabt ihr nur kurz eine Runde im Park, damit sich das Duschen lohnt? Warum fehlt euch nicht dieses Gefühl im Ziel eines Marathonlaufs, den Tank bis zum letzten Tropfen leer gelaufen zu haben – einschließlich Reservekanister?

Wer sich diese Art der Askese nicht vorstellen kann, der steht am Rand. Und morgen am Straßenrand. Er isst seine Bratwurst, lässt den Hund in die Rabatten kacken und den Motor im Leerlauf bollern. So stehen sie Kilometer um Kilometer an der Strecke und trüben meine Freude am Ereignis Marathon.

Jedenfalls bis Kilometer 36. Von da an ist mir völlig egal, wer mich anfeuert. Aber auch das verstehen wahrscheinlich nur Marathonläufer.