„Das Buch war ein Wagnis“

Seit der Wende ist nichts Wesentliches passiert: Ein Gespräch mit Thomas Brussig über seinen neuen Roman „Wie es leuchtet“, die Kunst des Kalauerns und das Verhältnis von Moral und Unterhaltung

INTERVIEW SUSANNE MESSMER

taz: Herr Brussig, Mitte der Neunzigerjahre wurde Ihnen vom deutschen Feuilleton bescheinigt, mit Ihrem Bestseller „Helden wie wir“ den offiziellen Wenderoman geschrieben zu haben.

Thomas Brussig: Komisch, dass der Verlag dann keinen Aufkleber auf den Umschlag gepappt hat. Andererseits unterstelle ich dem Feuilleton ein krasses Fehlurteil: „Helden wie wir“ beschreibt weder Ursachen noch Verlauf der Wende.

Aber in Ihrem neuen Roman „Wie es leuchtet“ geht es zentral um die Wende. Wollten Sie also nachlegen?

Das Thema war noch längst nicht erledigt, ich hatte es ja nicht mal angefasst. Dieses Jahr von Mitte 1989 bis Mitte 1990 war das bewegendste und wichtigste und erfüllteste Jahr meines Lebens. Und seitdem ist auch nichts Wesentliches passiert.

Wir treffen uns hier an einem für Sie sehr spannenden Datum: am Erstverkaufstag Ihres Buches. Haben Sie heute Morgen schon die Feuilletons gelesen?

Nein. Ich lese seit 1999 nicht die Rezensionen meiner Bücher und will auch von niemandem hören, wie sie sind. Ich will den Blick des Berufskritikers nicht in mich reinlassen. Wenn heute gar nichts über meinen neuen Roman in der Zeitung steht, dann würde ich nicht mal das wissen.

Aber die Bestsellerlisten werden Sie in den kommenden Wochen schon beobachten?

Der Verlag wird sicher anrufen, wenn’s erfreuliche Neuigkeiten gibt. Die wissen das ja immer schon ein paar Tage, bevor es im Spiegel steht. Ich freue mich darüber, dass das Buch da ist, dass es eine schöne Aufmachung hat und dass es für seine 600 Seiten einen sehr zivilen Preis hat: nur 19 Euro 90.

Ihr Buch konzentriert sich sehr stark auf historische Momente wie Montagsdemos, Mauerfall oder erste Wahlen – auf die emotionale Gegenwärtigkeit dieser Augenblicke. War es schwer, sich daran zu erinnern?

Nein, das war immer noch da. Ich denke immer wieder an dieses Jahr, es arbeitet immer in mir. Ich musste diese Vielzahl von Gefühlen und von Begebenheiten einfach mal zum Gegenstand machen. Und weil ich wusste, dass nicht nur mich diese Zeit aufgewühlt hat, fiel die Entscheidung sehr früh, den Roman als ein Panorama anzulegen und viele Figuren aus allen möglichen Schichten und Bereichen der Gesellschaft und aus beiden Teilen Deutschlands zu beschreiben.

Durch seine zwanzig Protagonisten ist der Roman vielschichtig und querschnittartig, also auch repräsentativ geworden. Manchmal aber auch ein bisschen anstrengend zu lesen.

Ich wäre der Letzte, den es drängt, Bücher zu schreiben, die für den Leser eine Zumutung darstellen. Ich schreibe nur Bücher, die ich selbst gern lesen möchte, Bücher, bei denen das Lesevergnügen im Vordergrund steht. Deshalb war es für mich eine Herausforderung, trotz dieses großen Ensembles nicht unübersichtlich zu werden.

Trotzdem hätten Sie Ihren Figuren näher kommen können, wenn Sie ihnen mehr Zeit gegeben hätten.

Natürlich bleibt da was auf der Strecke. Da ist das Buch nicht besser als das Leben – es war nun mal eine atemlose Zeit. Ein ganzjähriges Spektakel.

Wie schon in „Helden wie wir“ arbeiten Sie mit fiktiven, aber auch mit ganz realen Personen. Herrn Dr. Erler vom Aufbau Verlag gibt es wirklich, auch den „kleinen, unrasierten Dichter“ Volker Braun; andere wie Jürgen Fuchs und Walter Janka kann man mühelos erkennen. Nicht immer machen diese Personen eine besonders gute Figur. Werden sie Ihnen keinen Ärger machen?

Ich habe aus den Menschen, die durch diese Zeit gegeistert sind, Romanfiguren gemacht. Mich haben Haltungen, Irrtümer, Abstürze interessiert. Wer dieses Buch nur daraufhin liest, wer gemeint sein könnte, bringt sich um das Vergnügen. Es geht natürlich nicht um den Volker Braun, sondern um einen Intellektuellentyp, der auf einmal glaubte, er sei dazu berufen, die Macht zu ergreifen. Natürlich hat Volker Braun nicht in Wirklichkeit versucht, die Räterepublik auszurufen.

Eine Ihrer Figuren, der Schriftsteller Waldemar, ist Portier im Palasthotel, wie Sie es einmal waren. Waldemar kommt aus Polen, hat seinen ersten Roman aber auf Deutsch geschrieben. In einem Gespräch mit seinem Lektor wird ihm der Reiz seines Stils bewusst: Er hat Skrupel gegenüber einer Sprache, die nicht die seine ist. Die Angst vor verbrauchten Sprachbildern, Floskeln und Kalauern: Ist das ein Thema für Sie?

Nein, eigentlich nicht. Haben Sie viele Kalauer gefunden?

Ein paar.

Schade. Ich dachte, ich hätte das Kalauern hinter mir gelassen. Vielleicht sollte ich Sie in den Kreis meiner Erstleser aufnehmen, als Kalauerwarnsystem.

Gern! Aber noch einmal zurück zu Waldemar: Warum haben Sie sich mit Waldemar in den Roman geschmuggelt?

An Waldemar hat mich interessiert, dass er nicht das Eine und nicht das Andere ist. Genauso wie die Blinde im Roman, die durch eine Operation wieder sehen können müsste, die Eindrücke aber nicht zu Bildern synthetisieren kann. Sie ist blind und sehend zugleich. Oder die Transsexuellen, deren Geschlechtsumwandlung durch den Weggang der Ärzte in den Westen unvollendet bleiben muss. Oder eben wie ich, der ich in der DDR geboren und aufgewachsen bin und plötzlich in einer Welt stand, in der ich mich nicht auskannte.

Und warum lassen Sie Waldemar sterben am Schluss? Und noch dazu auf so eine sinnlose Art, beim Bungee-Jumping?

Na ja, ein erfolgloser Schriftsteller ist eine ziemlich unhandliche Romanfigur. Aber ich grüble an einer Fortsetzung – und da würde Waldemar im Rollstuhl sitzen. Denn tot ist er noch nicht – er fällt erst mal nur aus großer Höhe, das Kapitel ist zu Ende, bevor er aufschlägt.

Abgesehen von Waldemar und den erwähnten Personen des öffentlichen Lebens kommen in Ihrem Buch auch wieder viele ganz stinknormale Leute vor, die zu kurz Gekommenen, sächselnde oder berlinernde Kleinbürger, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Verkäuferinnen, Polizisten. Haben Sie je erwogen, auch mal ein Buch über Figuren zu schreiben, mit denen Sie ganz auf Augenhöhe sind?

Ich hab das ja schon getan, in meinem Erstling „Wasserfarben“. – Wollen Sie mich jetzt überreden, ein Buch über einen Schriftsteller zu schreiben? Da gibt es so viel Gutes, dass es mich bis jetzt noch nicht gedrängt hat, dem etwas hinzuzufügen.

Aber warum lassen Sie Ihre Figuren immer wieder so auflaufen, lassen sie in Situationen furzen, wo sie repräsentieren müssen, oder beim ersten Strandurlaub auf Mallorca in der Sonne heillos verbrennen? Was bereitet Ihnen so viel Vergnügen daran, diese Personen so radikal zu erniedrigen und zu beleidigen? Haben Sie nie Mitleid mit ihnen?

Doch! Natürlich habe ich auch Mitleid mit ihnen! Ich will nicht mit ihnen tauschen! Andererseits gehörte es eben auch in diese Zeit, dass viele die Wende auf Biegen oder Brechen mitmachen wollten, vor nichts Halt und sich damit lächerlich machten. Es gibt solche Menschen, und es macht eben einfach Spaß, sie zu beschreiben. Da kann ich einfach nicht widerstehen. Sie schreiben sich praktisch von selbst.

Indem Sie diese Figuren nie hochkommen lassen, können sie aber auch keine Eigendynamik entwickeln. Geben Sie beim Schreiben nie die Kontrolle aus der Hand?

Dieser Roman war ein Sprung ins Dunkle. Ich wusste, in welchem Zeitraum er spielen sollte und dass es einen Hochstapler geben sollte. Mehr wusste ich nicht, als ich begann. Ehrlich gesagt ärgert mich Ihre Frage. Autoren müssen sich ins Feuer begeben und dann sehen, wie sie lebend wieder rauskommen. Dann wird’s interessant, es zu lesen. Und ich wusste lange nicht, ob ich einen großen, aus den Fugen gehenden Roman schreibe – oder ob ich nur eine große Scheußlichkeit verfasse. Dieser ganze Schreibprozess war ein Wagnis. Schon dass es in meinem Lesekosmos kein einziges Buch gibt, das mir hier als Vorbild dienen könnte, geschweige denn, dass ich je etwas Ähnliches versucht hätte.

Am Anfang Ihres Roman dominiert eher der Glücksrausch, den die Wende bei vielen ausgelöst hat – später das große Erwachen, Ernüchterung und Enttäuschung. Der wilde Willi bekommt beim ersten Neujahrsfest am Brandenburger Tor eine leere Sektflasche auf den Kopf und stirbt. Die schöne, unbekümmerte Lena aus Karl-Marx-Stadt lernt plötzlich rechnen und „irgendetwas in ihr wird gewöhnlich“. Und der hartgesottene Starreporter aus dem Westen entdeckt plötzlich sein Herz und schreibt seine erste menschliche Reportage über den Osten, die er aber nicht verkaufen kann und die seinen Ruhm bekleckert. Sind Sie ein Moralist?

Ja. Da bin ich ganz ein Enkel von Erich Kästner. Bei ihm habe ich das symbiotische Verhältnis zwischen dem Unterhaltenden und dem Moralischen kapiert. Das Moralische ohne das Unterhaltende ist Moralin und langweilig. Das Unterhaltende ohne das Moralische ist belanglos und leer. Je unterhaltender man ist, desto moralischer muss man auch sein, und je moralischer man sein will, desto unterhaltender muss man auch sein.

Können Sie sich vorstellen, einmal ein Buch zu schreiben, in dem die DDR nicht vorkommt?

Ja. Ich kann mir eine ganze Menge vorstellen. Ich kann mir auch vorstellen, Gärtner zu werden.

Die Buchpremiere findet am Montag, den 27. September um 20 Uhr im Kesselhaus der Kulturbrauerei in Berlin statt. Moderation: Christoph Dieckmann