die kultur der sekretäre
: Totales Wissen

135 Kapitel hatte anno 1571 die Anordnung des Indienrates der spanischen Krone, auf dass jeder Winkel der lateinamerikanischen Kolonien registriert werde. Die Unkenntnis über die transatlantischen Besitzungen bedeute eine unmittelbare Gefahr für das Königreich selbst, begründete der Ratsvorsitzende Juan de Ovando. Und: Wie solle man vernünftig verwalten, was man nicht kenne? Es begann eine Inventur des ganzen Kontinentes. Nicht nur über die Geografie wurde genau Buch geführt, auch über Flora und Fauna, die Bevölkerung, ihren Handel und sogar das Sexualverhalten der den Spaniern so fremden indigenen Völker.

 Dieses heute fast vergessene Kapitel aus der spanischen Kolonialgeschichte, so eine These in dem Sammelband „Europa. Kultur der Sekretäre“, sei die Kehrseite einer historischen Entwicklung von Sprache und Schrift, die in Europa allein als die Geschichte von Humanismus und Aufklärung wahrgenommen werde. Wird sie als Historie von Rapporten und Bescheiden, von Inventuren und Bilanzen, von Protokollen und Abschriften erzählt, sei sie gleichzeitig eine Geschichte der Machtergreifung des Bürokratismus in Europa.

 Und dabei ist 1571 nicht das erste Datum, das von der besessenen Sorge erzählt, irgendetwas könnte dem totalen Wissen des Staates entzogen sein. Schon 1028 versuchte William der Eroberer die Besitzverhältnisse in ganz England klären zu lassen. In den „Doomsday Books“, Büchern, denen bis zum Jüngsten Tag Gültigkeit zugesprochen wurde, sollten nicht nur die Ländereien aufgeführt sein, sondern auch, wem wie viele Schweine, Kühe, Fischteiche und Leibeigene gehörten – die Kommissare des Königs allerdings scheiterten an der Inventur. Doch der Wille, dass alle Welt geschätzt würde, war schon voll ausgeprägt. Nichts ist, was nicht geschrieben steht, so kurz lässt sich das fassen, was die Autoren des Sammelbandes – zumeist Philologen und Medientheoretiker – als das regierende Paradigma des Sekretärs beschreiben.

 Der Sekretär im eigentlichen Sinne nimmt denn auch den kleineren Teil des Buches ein. Mit der Welt der Schriftgelehrten, so eine weitere These, etablierte sich seit dem 16. Jahrhundert die Gegenwelt des anonymen, geheimen Schreibers im Vorzimmer der Mächtigen, denn das meint der Begriff Sekretär ursprünglich im Französischen. In der Geschichte Frankreichs ist eins der bemerkenswertesten Beispiele zu finden, welche Machtfülle sich diese Sekretäre zu schaffen wussten. Einer davon, der Baron Fain, veröffentlichte im Jahr 1828 seine Memoiren. Das Buch ist eine genaue Konstruktionszeichnung des Machtapparats von Napoléon, dem auch Fain als Staatssekretär diente. Unscheinbare Männer ohne Titel, Dolmetscher und Stenografen halten in der kaiserlichen Kanzlei das Staatswesen am Laufen – Fain schildert dabei gleichermaßen die wechselseitige Abhängigkeit von Funktionären und dem Kaiser.

 Doch das Hauptaugenmerk der Herausgeber gilt der fließenden Grenze zwischen dem Beschreiben der Welt und dem Schreiben über die Welt. Den Sekretär begreifen die Herausgeber als Schaltstelle, welche Daten und Botschaften in die autorisierten Formen von Befehl und Rechtsprechung, Wissenschaft oder Kunst übersetzt. In diesem Sinne ist der Philosoph genauso ein Sekretär wie der Journalist oder Landschaftsmaler. Sie alle verzeichnen Welt. Ein sehr weiter, sehr funktionaler Begriff. Wer das Buch als eine Geschichte der Bürokratie zu lesen versucht, gerade im Hinblick auf die aktuellen Diskussionen über den deutschen Beamtenapparat, seine Verschlankung und das Ende des Berufsbeamtentums, der wird sich mit der Lektüre nicht bedient fühlen. Warum etwa die Kultur der Sekretäre und ihr Einfluss ausgerechnet ein europäisches Phänomen sein sollen, wie es der Titel suggeriert, das erschließt sich leider zu wenig. Es bleibt die paradoxe Vermutung, dass die Machtfülle der Verwaltung sich aus dem Verständnis speist, dass ohne das totale Wissen jede Entscheidung willkürlich bleiben muss. Am treffendsten erzählt davon aber Hermann Melville in seinem Buch „Barthleby“. Es ist die Geschichte eines scheuen Anwaltsgehilfen, der nur dann souverän auftritt, wenn er sich entschieden hat, keine Entscheidung zu fällen. JÖRN KABISCH

Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hrsg.): „Europa. Kultur der Sekretäre“. diaphanes, Zürich/Berlin 2003, 271 Seiten, 32,90 Euro