Abitur statt harter Arbeit

Historiker räumen auf einer Tagung in Münster mit den Mythen des modernen Fußballs auf. Neben dem Spiel wird das Auftreten außerhalb des Platzes immer wichtiger – auch im Amateurbereich

Fußball hat sich vom Arbeiter- zum Mittelklassesport gewandelt

AUS MÜNSTERJÖRG GIERSE

Sie ist vorbei, die Zeit der kernigen Malocher, die Zeit der Fußballer mit stahlhartem Fuß und weichem Hirn. Männer wie Joachim Hopp, der nach der Schicht auf der Thyssen-Hütte noch Kraft hatte, die Mitspieler auf dem Trainingsplatz reihenweise umzusensen; oder der Bochumer Thorsten Legat, der im Sportstudio auf die Frage, wie er zum Bodybuilding gekommen sei, erklärte: „Immer Castroper Straße rauf“ – in der Bundesliga gibt es sie kaum noch, jetzt sterben sie auch bei den Amateuren aus. Und das ist auch noch wissenschaftlich zu belegen.

Der moderne Amateurfußballer in Westdeutschland hat Abitur und eine feste Freundin, sieht keinen Widerspruch zwischen Leistung und Spaß, steht voll in einem guten Job und findet trotzdem noch Zeit für drei wöchentliche Trainingseinheiten. Das ist eine der Erkenntnisse, die die Fachtagung „Fußball in Geschichte und Gesellschaft“ hervorbrachte. 65 renommierte Wissenschaftler aus ganz Deutschland treffen sich derzeit in Münster, um sich gegenseitig auf den Stand der Forschung zu dem Volkssport zu bringen – und mit einigen volkstümlichen Mythen aufzuräumen.

Zum Beispiel mit dem des doofen Feierabendkickers. Wer heute im Verein Fußball spielt, tut das nicht nur, um nach dem Training mit den Kumpels an der Theke zu versacken. „Selbst in der Kreisliga haben die meisten Spieler einen hohen Bildungsstandard und sind leistungsorientiert – im Sport wie im Beruf“, sagt Professor Dieter H. Jütting. Der Sportsoziologe der ausrichtenden Uni Münster hat 3.000 Vereinsfußballer in NRW angeschrieben und nach Karrieremustern, Sozialprofilen und Leistungsniveau befragt.

Das Ergebnis: Fußball hat sich vom Arbeiter- zum Mittelklassesport gewandelt. Ob der Vater Maurer oder Lehrer war, spielt bei der Entscheidung für den Sport keine Rolle mehr. Wohl aber, ob man selbst Maurer oder Lehrer wird: „Wer 40 Wochenstunden auf dem Bau malocht, verspürt natürlich weniger Lust auf Training als ein Student“, so Jütting. Ganz wichtige Erfolgsfaktoren: Haben die Eltern die Ballbegeisterung ihrer Sprösslinge gefördert? Und, später alles entscheidend: Zieht die Freundin mit, wenn ihr Flankengott am Sonntag auf dem Sportplatz rumgrätscht? Wer beides bejahen kann, darf die Bezirksliga schon mal ins Auge fassen.

Bisher, findet Sporthistoriker Professor Michael Krüger, hat die Wissenschaft sich viel zu wenig mit der breiten Basis der Amateurkicker auseinandergesetzt – „genau so wenig wie mit anderen sozialen und kulturellen Aspekten des Massenphänomens Fußball“. Leitfäden für die praktische Trainingsarbeit gebe es dagegen zuhauf, ebenso wie bunte Jubelschriften und Vereinshistörchen. Das erste Treffen der Crème de la crème unter den Fußballforschern soll deshalb Initialzündung für eine seriösere, interdisziplinäre Arbeit sein.

Und so thematisiert man ökonomische Zwänge der globalisierten „Ware Fußball“, die Kommunikationsstrategien von Trainern und das soziale Engagement von Vereinen, die Strukturen der Nachwuchsförderung in England und die Arbeit der Betriebssportgruppen in der DDR. Bis zur WM 2006 im eigenen Land sind es schließlich keine zwei Jahre mehr, und bis dahin wollen auch die deutschen Wissenschaftler vor der Welt ein gutes Bild abgeben. Und, so das freimütig ausgerufene Ziel, möglichst viele Examensarbeiten und Dissertationen zum Thema vorlegen.

Fußball – bald nur noch ein Spiel für Eierköpfe? Vielleicht sollte mal jemand Joachim Hopp darüber informieren. Der ist jetzt übrigens Co-Trainer in Wuppertal. Ganz ohne Abitur.