Alles auf Anfang

Gemessen am Gewicht der Fragen, die Roland Schimmelpfennig in seinen Stücken eruiert, erstaunt es immer wieder, dass sie auf der Bühne oft wie Spielzeug wirken, hin- und hergeschobene Modellfiguren: Wie „Die Frau von früher“, die Elias Perrig als deutsche Erstaufführung in Hannover inszeniert

Wo hinter jeder Tür ein kleines erotisches Abenteuer versteckt ist

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Romy spielt das Spiel – was wäre, wenn. Was wäre, wenn wir noch einmal an den viel versprechendsten Punkt unseres Lebens zurückkehren und von vorn beginnen könnten. Bei Romy bleibt das kein bloßes Gedankenspiel. Und weil der Punkt, an dem in ihrem Leben noch alles offen und nicht nur ein abzuarbeitender Plan war, lange zurückliegt, 24 Jahre nämlich, macht sie sich mit ungeheurer Konzentration an die Vernichtung der Zwischenzeit.

Deshalb liegen nach knapp siebzig Minuten Aufführung zwei Leichen auf der Bühne des Schauspiels Hannover und zwei weitere Figuren beugen sich mit Entsetzen über die Trümmer ihres Lebens. Am Ende erreicht der Schrecken in dem Fünf-Personen-Stück „Die Frau von früher“ das Ausmaß der antiken Tragödie und dabei begann der Abend doch so leicht wie ein komödiantisches Salonstück, eines von denen, wo hinter jeder Tür ein kleines erotisches Abenteuer versteckt ist.

Die Uhren noch einmal zurückdrehen, das ist auch das Spiel, mit dem der Autor Roland Schimmelpfennig aus einer kurzen Geschichte ein verschachteltes System von Vorwärts-, Rückwärtsbewegungen und Wiederholungen macht. Vier große Normalzeituhren ticken im Bühnenbild von Wolf Gutjahr zwischen den Türen in dem hell erleuchteten Korridor, in dem alle Szenen angesiedelt sind. Minute für Minute liest der Zuschauer mit, wie lange er sich schon in der Vorstellung befindet. Doch vor diesem Kontinuum der Realzeit scratcht das Stück auf der imaginären Zeitschiene des Dramas ständig vor und zurück.

So sehen wir oft erst, wie die Kugel in eine eben noch für unmöglich gehaltene Richtung rollt und Frank (Matthias Neukirch), der seine alte Jugendliebe Romy (Susanna Fernandes Genebra) doch schon längst vergessen hatte, mit ihr durchbrennen will. Dann schneidet das Stück ein paar Augenblicke zurück und in ihnen zerfällt, was Frank und seine Frau Claudia (Isabelle Menke) in zwanzig Jahren an Gemeinsamkeit aufgebaut haben, in ein paar kaum noch glaubwürdige Verabredungen. Plötzlich scheint, was eben noch fantastisch schien, emotional als die richtige Perspektive.

So ist „Die Frau von früher“ nicht nur ein Stück, das auf kurzer Strecke Elemente von Komödie, Tragödie und Thriller zunächst unvereinbar eng aneinander schneidet, sondern der Text funktioniert zugleich als ein dramatischer Bausatz, der demonstriert, wie das eine aus dem anderen hervorgehen kann. Die Inszenierung von Elias Perrig, die das Schauspiel Hannover in Koproduktion mit dem Staatstheater Stuttgart herausgebracht hat, führt dieses Vor und Zurück wie einen Film am Schneidetisch leichthändig vor.

Der Bühnenraum ist zu einem schmalen Streifen zusammengeschmolzen, ein flaches Raumsegment auf Rollen, als ob den Personen mit der Vergangenheit, die ihnen genommen wird, zugleich auch räumlich jede Möglichkeit der Tiefe abhanden käme. Und man lernt: Das Subjekt, das jederzeit glaubt, sich neu erfinden zu können, zahlt dafür einen hohen Preis. Es verliert sozusagen in allen Dimensionen an Ausdehnung.

„Die Frau von früher“ gab auch einem fast siebenhundert Seiten starken Taschenbuch den Titel, im September bei Fischer erschienen, das fünfzehn Stücke von Roland Schimmelpfennig zusammenfasst. Er ist nicht nur ein äußerst produktiver Autor, sondern gehört auch zu den meistgespielten seiner Generation (geb. 1967). Einige seiner Dramen sind schärfer und böser im Ton, andere rätselhafter und verspielter – aber fast immer wird aus dem Spiel mit den Regeln des Dramas und des Erzählens eine regelrechte erkenntnistheoretische Versuchsanlage: Wann hat man sein Leben in der Hand, wie erkennt man den Moment der Entscheidung, wie greift die Geschichte als große Erzählung auf das zu, was der Einzelne sieht.

Gemessen am Gewicht dieser Fragen erstaunt, auch jetzt in Hannover wieder, dass die Stücke Schimmelpfennigs auf der Bühne oft wie Spielzeug wirken, hin- und hergeschobene Modellfiguren. Eine Kiste mit Spielzeugautos und Legosteinen ist sicher nicht von ungefähr auch so ziemlich das einzige Requisit der Aufführung. Franks Sohn hat sie mit seinem Tag beschrieben – und das ist am Ende die einzige Spur, die von ihm bleibt. Denn dass die Existenz ein sehr fragiles und verletzliches Ding ist, bildet die Begleitmelodie aller Formexperimente.