Kontinentaler Konsument

Am IT-Boom verdienen in Indien zwar nicht viele Menschen. Aber für das Angebot der Weltkonzerne sind es bereits genug

Aus Delhi BERNARD IMHASLY

Als Daimler-Benz vor zehn Jahren im indischen Poona die Produktion von Mercedes-Karossen aufnahm, hatte die Konkurrenz von BMW dafür nur Hohn übrig. Indien war das größte Armenhaus der Welt, mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gerade mal 375 Dollar pro Jahr. Selbst wenn die Luxusfirma nur die winzige Schicht von Reichen ins Visier nehme, würden hohe Steuern auch diese auf einige Hundert potenzielle Käufer schmelzen lassen. Die ersten Jahre schienen der Kritik Recht zu geben. Selbst um eine Produktion von sechshundert Fahrzeugen zu erreichen, musste die Hälfte der Autos nach Afrika exportiert werden.

Inzwischen sind es die Stuttgarter, die lachen. Die Marktöffnung des Landes 1991 hat in den letzten fünf Jahren zu einer rapiden Ausweitung der Mittelschicht geführt, die heute auf 235 Millionen Menschen geschätzt wird. Nur ein kleiner Bruchteil davon kann sich zwar einen Mercedes leisten, doch in einem Land mit einer Milliarde Menschen verbergen sich selbst hinter kleinen Prozentsätzen große Zahlen. Die E-Klasse-Produktion läuft auf vollen Touren, und bald werden auch Fahrzeuge der S-Klasse in Poona aus der Produktionsstraße rollen.

Auch im Kleinwagen-Segment hat eine Revolution stattgefunden. Die Jahresproduktion ist in zwölf Jahren von 200.000 auf eine Million Fahrzeuge gestiegen. Und wenn das Wirtschaftswachstum auf dem Niveau von 6 und 8 Prozent bleibt, wird Indien bereits in vier Jahren so viele Fahrzeuge herstellen wie heute China und hinter diesem, Japan und den USA weltweit der größter Konsument von Personenwagen sein. Das Angebot hat sich bereits stark verbreitert. Aus dem Oligopol von drei Automarken ist ein heftig umkämpfter Markt geworden, in dem alle großen internationalen Hersteller mit einer lokalen Produktion präsent sind – mit Ausnahme von VW und BMW. Dafür sind die Zulieferfirmen aktiv: Die Firma Bosch gab im August bekannt, dass sie in den nächsten vier Jahren 175 Millionen Euro in ihre indische Tochterfirma investieren wird, weil sie Indien zur „Startrampe“ für die Entwicklung des neuen CRDi-Dieselmotors machen will.

In westlichen Augen trägt Indien immer noch das Doppelgesicht von hungernden Bauern und brillanten Software-Ingenieuren. Zwischen diesen Extremen wächst heute eine Mittelschicht heran, die immer mehr Geld zur Verfügung hat, um sich ein bisschen Luxus zu leisten. Eine kürzliche Studie der UBS-Bank zeigt, dass das Pro-Kopf-Einkommen um die Kaufkraft korrigiert („Purchasing Power Parity“) in Indien bereits in acht Jahren 5.000 Dollar erreichen wird – dann wird der Konsum von nicht essenziellen Gütern rapide steigen.

Die IT-Industrie trägt nur marginal zu dieser rasch wachsenden neuen Konsumgesellschaft bei. Nicht einmal eine Million der insgesamt 335 Millionen Werktätigen arbeiten in den viel bewunderten und viel geschmähten Denkfabriken und Call-Centern. Dennoch sind es die indischen Ingenieure und Programmierer, die mit ihrem internationalen Erfolg dem Land das Selbstbewusstsein gaben, sich der Welt zu öffnen. Vor zehn Jahren hatten sich die großen indischen Firmen noch zu einem „Bombay Club“ zusammengetan, der den Staat um Schutz vor ausländischer Konkurrenz anflehte. Vergeblich. Heute exportieren dieselben Unternehmer ihre Autos, Zwei- und Dreiräder samt Zubehör nach China, in die Asean-Länder und immer mehr auch in die EU und die USA. In diesem Jahr kaufte eine indische Firma den weltweit zweitgrößten Hersteller von Stanzteilen für die Automobilherstellung, und auf den englischen Straßen läuft, unter dem Namen „City Rover“, der indische Kleinwagen Indica.

Dennoch wächst die IT-Branche weiterhin am stärksten. Während die eigentlichen Exporte von Software-Dienstleistungen im vorigen Jahr nur um 30 Prozent gestiegen sind, hat sich das Wachstum der elektronischen Bürodienste („Business Process Outsourcing“) verdoppelt. In diesem Segment entwickeln sich wiederum die Dienstleistungen mit höherer Wertschöpfung – Rechtsdienste, medizinische Beratung, Unternehmensplanung, Design – am schnellsten.

Parallel zur höheren Wertschöpfung steigen auch die Löhne. Immer noch aber ist das Gefälle zwischen Indien und Hochlohnländern wie Deutschland (gegenwärtig 1:8) hoch genug, um eine Auslagerung von Wissensarbeit ökonomisch sinnvoll zu machen. Für den Fortbestand des Lohngefälles sorgt die halbe Million jährlicher College-Absolventen mit technischen Abschlüssen, die bereit sind, für wenig Geld zu arbeiten.

Für die anderen acht Millionen dagegen, die pro Jahr in ein arbeitsfähiges Alter treten, wird eine feste Anstellung überwiegend ein ferner Traum bleiben. Sie werden ihre besten Jahre an der Armutsgrenze zubringen. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der arbeitsfähigen Bevölkerung um über zwei Prozent gestiegen, während die Zahl offener Stellen nur um ein Prozent zugenommen hat.

Dieser Vergleich zeigt: Indien wird trotz Exporterfolgen und internationalem Image-Gewinn weiter ein sehr armes Land bleiben. 250 Millionen Menschen in der Mittel- und Oberschicht sind nicht nur ein Indikator für eine riesige Zahl von Kunden und Konsumenten. Er verweist auch auf die restlichen 750 Millionen Menschen, von denen gut die Hälfte nicht einmal ihre Grundbedürfnisse zum Überleben sichern können.