Sex nach Schichtende

Trauerarbeit an der „schönsten Nebensache der Welt“? Jacqueline Kornmüller hat für das Stuttgarter Schauspielhaus die Uraufführung von Theresia Walsers Stück „Wandernutten“ als ein existenzialistisches Drama inszeniert

Alles gerät eine Nummer zu groß, suggeriert Bedeutung, ohne damit aber Inhalte zu transportieren

Im Niemandsland einer weißgrauen Fläche sitzen ein Mann und eine Frau in identischen hässlich-braunen Steppmänteln auf einer Bank und unterhalten sich über „die schönste Nebensache der Welt“. Damit meinen sie sich selbst: Ute und Ronni sind ein in die Jahre gekommenes, desillusioniertes Porno-Darsteller-Pärchen. Zwei, die nicht miteinander können, aber auch nicht ohne einander auskommen, wie Becketts berühmte Theaterfiguren Wladimir und Estragon. Die beiden warten jedoch nicht auf Godot, sondern bloß auf den nächsten Film-Job, der ebenfalls nicht kommt. Stattdessen weht der Bühnen-Wind die „Verliebte“ herein, eine offenkundig etwas realitätsfremde Idealistin, die für ihren Geliebten einen Ast aus dem Weg geräumt hat.

Mit dieser zwischen existenzieller Verlorenheit, bizarrer Komik und Theaterpoesie changierenden Szene, von Traugott Buhre als Gast sowie den Ensemble-Mitgliedern Juliane Koren und Hedi Kriegeskotte punktgenau interpretiert, lässt Jacqueline Kornmüller im Stuttgarter Schauspielhaus ihre Inszenierung von „Wandernutten“ beginnen. Die Hausregisseurin des Staatsschauspiels hat die Uraufführung des im Rahmen des Autorenprojekts „Dichter ans Theater“ entstandenen Stücks von Theresia Walser übernommen.

Nach diesem vielversprechenden Auftakt bleiben die folgenden zwei Stunden jedoch ein wenig hinter den hohen Erwartungen zurück. Walser stellt das eingangs beschriebene Trio einer Männertischgesellschaft sowie einer Frauenrunde in einer Hotelbar zur Seite. Das Herren-Quartett und auch die drei Damen reden über Liebe, Sex und das jeweils andere Geschlecht, wie Männer und Frauen das eben gern mal tun, wenn sie unter sich sind; und mit dem Alkoholkonsum sinken die verbalen Hemmschwellen. Walser analysiert trefflich, welche Fantasien und Wünsche, aber auch welche Einsamkeit, Frustrationen und Ängste sich hinter dem coolen, selbstsicheren Gehabe ihrer Figuren verbergen. Ihre lakonische, gleichwohl poetische Kunstsprache und die wie ein skurriler Kommentar eingewobenen Szenen um die namenlose Verliebte und die Pornodarsteller heben das Stück von einem geschickt gebauten Konversationsstück ab.

Aber „Wandernutten“ ist kein existenzialistisches Drama. Und als solches versucht Kornmüller das Stück auf die Bühne zu bringen. Schon das konkrete Örtlichkeiten verweigernde Bühnenbild von Christin Vahl legt nahe, dass die Regisseurin auf Allgemeingültigkeit abzielt. In ihren Brecht- und Horváth-Inszenierungen ist es Kornmüller gelungen, in abstrakten Räumen mit wenigen Mitteln, konzentriert auf die Darsteller große Theaterkunst zu schaffen. Hier geht es gründlich schief: Alles gerät eine Nummer zu groß, suggeriert Bedeutung, ohne damit aber Inhalte zu transportieren.

Mit einem türkisfarbenen Pick-up fährt die Männergesellschaft auf der Bühne vor, die Damen im Cabrio respektive im Mini. Die selbstbewussten, erfolgreichen Geschäftsfrauen räkeln sich im grauen Kostüm lasziv auf der Kühlerhaube, während sie über Ehebruch und One-Night-Stands parlieren, stemmen weiße Klosetts, schlürfen Champagner aus meterlangen Strohhalmen. Die Herren lümmeln schlammverschmiert mit Badehandtuch um die Hüfte im Sand. Die Geräusche, sei es die Klospülung, herabfallende Kastanien oder Erbrechen, werden elektronisch verstärkt.

Konsum statt Gefühle und Sex als Ware? Soll das die Botschaft der ins Überdimensionierte verzerrten Dinge sein? Allein, diese Welt ist nur aufgeblasen wie das weiße Kunststoffgebilde, das mal als Wolke in der Luft schwebt, mal als Sitzgelegenheit fungiert.

Die Darsteller der Frauen- und der Männergesellschaft lässt die Regisseurin bewusst artifiziell und überdreht agieren. Obwohl die Schauspieler, allen voran Felix Kramer, Kai Schumann und Ute Hannig, versuchen, das Beste daraus zu machen, bleibt man von den Figuren weitgehend unberührt. Das ist ebenso wenig verzeihlich wie die Tatsache, dass die sprachlichen Finessen des Textes so nicht ihre Wirkung entfalten können. Die theatralen Mittel bringen die verborgenen Schichten des Textes nicht zum Funkeln. Stattdessen erstickt die Qualität des Stücks in einem überfrachteten Konzept.

CLAUDIA GASS