Eine Stadt, die niemals schläft

Die Türkei ist ein sich rasend modernisierendes Sozialwesen. Istanbul, diese kosmopolitische Metropole, vermittelt eine Anschauung dieser Dynamik. Gegen dieses Laboratorium des 21. Jahrhunderts nimmt sich jeder Unterschriftenstand in einer deutschen Fußgängerzone provinziell aus

Wie in Manhattan kann man sich hier nicht verlaufen.Aber verloren gehen,das kann man durchaus

VON ULRICH PELTZER

Nach einem kurzen Besuch Istanbuls 1985 schrieb der russische Lyriker und spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky, „dass die Straßen verwinkelt, dreckig, schrecklich holprig und von Abfall übersät sind, der dauernd von räuberischen Straßenkatzen durchstöbert wird; dass die Stadt und alles, was darin ist, stark nach Astrachan und Samarkand riecht; (dass) es reichte, um sich das Unbewusste zu besudeln“.

Er wohnte damals auf der europäischen Seite im Pera Palace Hotel, dessen Zimmerpreise die des in Sichtweite am Hang gelegenen Hotel Londra beträchtlich übersteigen. Doch hat man auch aus dieser kleinen und abgeschabten Variante des kolonialen Pera einen phänomenalen Blick übers goldene Horn auf die Silhouette der Kuppeln und Minarette am anderen Ufer, und ruhiger ist es sowieso. Vielleicht war es der dort unten an der Ecke höllisch tobende, sich immer wieder grotesk stauende Verkehr, der dem im New Yorker Exil lebenden Genius wirre Träume verschaffte, die ihn bald das Weite suchen ließen. Vielleicht hat er sich falsche Vorstellungen von dem gemacht, was einmal Byzanz und Konstantinopel gewesen ist, vielleicht aber, und das kommt mir am wahrscheinlichsten vor, handelt es sich heute ganz einfach um einen anderen Ort.

Hören wir ihm noch einmal zu: „Das Delirium und der Schrecken des Ostens … Grün nur auf dem Banner des Propheten … Dieser Geruch! Eine Mischung aus fauligem Tabak und schweißiger Seife und Unterwäsche, die wie ein zweiter Turban um die Lenden gewickelt ist … Allenthalben Beton mit der Farbe eines umgewühlten Grabes.“ Idiosynkrasien gegen die Moderne geben sich die Klinke in die Hand mit solchen gegen das Osmanische Imperium und seine Stile und Dynastien, was dann in eine misanthropische Beschimpfung der einheimischen Bevölkerung einmündet, die „in einem Zustand totaler Abgestumpftheit sich in schmierigen Snack-Bars die Zeit“ vertreibe.

Man muss die Türken Istanbuls nicht mögen, um hier eine Form der Verzweiflung am Werk zu sehen, die ihnen so wenig gerecht wird, wie sie blind für die Dynamik einer in den letzten zwanzig Jahren um vier oder sechs (niemand weiß das genau) Millionen Einwohner gewachsenen Metropole ist. In den Beschreibungen Brodskys jedenfalls, wie in denen anderer klassischer Reisender und Autoren, Flaubert oder Ambler, ist die Stadt der Gegenwart kaum wiederzuentdecken, ob man sie nun als übles Zerrbild oder eine Art exotisches Märchen wahrgenommen hat. Im Sommer 2004 erscheint Istanbul vielmehr als einer der vitalsten Plätze Europas.

Wie man sich im rechtwinkligen Straßennetz Manhattans nicht verlaufen kann (wenn auch ziemlich schnell verloren gehen), so gibt es in Istanbul einen sicheren Weg, aus dem Labyrinth der Gassen und Höfe, der Passagen und Durchbrüche wieder herauszukommen – man geht bergab, bis man irgendwo auf Wasser stößt. Um von jeder Stelle auf eine der schönsten urbanen Kulissen der Welt zu blicken, die in ihrem Umriss die Geschichte zweier Kontinente und Kulturen einschließt.

Es gibt große Städte an einem Fluss, und es gibt welche am Meer, Paris oder Neapel, hier trifft man beides, eine auf Hügeln sich endlos dahinstreckende städtische Landschaft, die vom Meer selbst, Meeresarmen, vom Bosporus durchzogen wird, mehr noch, deren imaginäre wie reale Mitte die weite Fläche des Marmara ist, die etliche, sich durch den unaufhörlichen Konvoi der Frachter und Tanker schlängelnde Fährschiffe überqueren. Und nur von einer dieser Fähren aus sieht man das Panorama vollständig, in einem Schwenk um die eigene Achse: von den halb im Grün eines Parks versteckten Dächern des alten Sultanpalastes über die sich auftürmenden Gewölbe der Hagia Sophia und der Süleymaniyemoschee bis zur doppelstöckigen, den ganzen Tag von Anglern bevölkerten Brücke übers Goldene Horn, vom Viertel der Genueser Kaufleute und der Gesandtschaften des vorigen Jahrhunderts bis hin zu einer sich hinter dem Taksimplatz ballenden Versammlung von Hochhäusern, die state of the art sind, modernste Zentralen des Kapitals und seine Herbergen, Hyatt Regency und Hilton.

Jenseits des Wassers liegt Asien, was als geografische Bezeichnung taugen mag, praktisch aber nichts als die Fortsetzung einer Megalopolis am anderen Ufer ist, dröhnende Stadt und Vorstadt und dahinter die Quartiere der Reichen, Apartmenthäuser und Villen mit der eleganten Bagdat Caddesi, einer Mischung aus Santa Monica Boulevard und Rodeo Drive, die ich auf und ab gelaufen bin, weil irgendwo in der Nähe ein Festival gegen die Nato-Tagung stattfinden sollte. Keine Ahnung mehr, was ich erwartet hatte, es war wohl reine Neugier, die mich da hin trieb, doch auf eine türkische Version des Kreuzberger Mariannenplatzfestes zu stoßen, kam mir trotzdem einigermaßen seltsam vor. Die gleichen Stände, die gleichen Leute, die gleiche Musik, nur gekifft wurde nicht.

Obwohl ich es nach drei Wochen Aufenthalt schon hätte wissen können, bedurfte es anscheinend dieses letzten Anstoßes, um mir wirklich klar zu werden, dass hier jene Normalität und freie Konkurrenz der Moden herrscht, jene Politik der Differenzen, die kennzeichnend ist für die säkularen und demokratischen Gesellschaften des Westens. Wie überhaupt Istanbul nichts mit einem Orient zu tun hat, in dem man an jeder Ecke übervorteilt oder nervtötend auf Schritt und Tritt angeschnorrt wird, in dem bettelnde Kinder und niederdrückende Armut Ausdruck einer empörenden Immobilität sind, von der allein die herrschenden Cliquen profitieren.

Waren die Reformen Atatürks ein erster radikaler Sprung ins 20. Jahrhundert, so treffen wir heute in der Türkei auf ein sich rasend modernisierendes Sozialwesen, das dabei ist, alle falschen Bindungen an die Vergangenheit abzuschütteln, um sich als notwendige Voraussetzung und logische Folge seines Weges in eine globalisierte Zukunft tief greifend zu verändern. Gegen Istanbul wirkt St. Petersburg bedrückend archaisch.

Beyoglu mit seiner weitläufigen Fußgängerzone ist das Viertel der Stadt, in dem die junge Mittelschicht ausgeht, einkauft, sich sehen lässt. Restaurant reiht sich an Restaurant, Bankomat an Bankomat, unzählige Cafés, Schuhgeschäfte, Fashionstores, Clubs, aber auch Plattenläden, gut sortierte Buchhandlungen (türkisch: die Übersetzung des Ulysses, englisch: Genderstudies zum Überdruss, deutsch: die Klassiker) und Galerien, die den notorischen Concept/Video-Standard ausstellen, finden sich in jedem Haus bis in die oberen Stockwerke hinein, die Kinos spielen die amerikanisch-französischen Charts in den Originalversionen rauf und runter, und wer mal schnell ins Netz will, steht vor einer Auswahl wie Buridans Esel, der sich zwischen zwei Heuhaufen nicht entscheiden kann und verhungert.

Der kosmopolitische Geist der alten Levante ist hier in einer zeitgenössischen Version wieder lebendig geworden wie nirgends sonst, so dass man sich vom ersten Moment an zu Hause fühlt, in der Menge treibend, eher schon überwältigt vom Angebot der Möglichkeiten, die keine Spielart und naturgemäß keine Idiotie der Zerstreuung auslassen. Der Alkoholkonsum ist beträchtlich, zum Essen gehört für beide, Männer wie Frauen, die Flasche Raki auf den Tisch, inwiefern man sich denken kann, dass die verheerenden Bombenanschläge des letzten Jahres sich nicht nur gegen eine englische Bankfiliale und das Konsulat des Landes neben einem Weinladen und einem Kiosk mit internationaler Presse richteten, sondern zugleich gegen eine Lebensweise, deren Modernität die tradierten Verhältnisse pulverisiert.

Kehrt man abends aus Eyüp, einer Hochburg der Konservativen, so aufgeräumt und langweilig wie die Innenstadt von Paderborn, nach Beyoglu zurück, kehrt man zurück aus einer Atmosphäre der Muffigkeit in ein überschäumendes Leben, das von sich selbst nicht genug kriegen kann. Und das dem Fremden keinen Augenblick das Gefühl vermittelt, fremd zu sein, nur zahlungsfähiger Gast, sondern ihn mit jener nachlässigen Gleichheit und Unberührtheit empfängt, die allen Weltstädten zu Eigen ist und sie zu Brutstätten des Unvorhergesehenen macht.

Wenn man New York nicht mit dem Rest der USA verwechseln sollte, so sicher nicht Istanbul mit seinem Hinterland, aber in Vechta oder Sacramento möchte ich genauso wenig tot überm Zaun hängen wie in Düzce (dabei kenn ich Düzce gar nicht, es müssen die Erzählungen eines Freundes genügen). Wählt man Istanbul hingegen zum Ausgangs- und Brennpunkt eines soziokulturellen Prozesses, dann wächst dieser Stadt exemplarische Bedeutung zu als Motor einer für mich offenkundig irreversiblen Entwicklung. Sie ist europäisches Laboratorium des 21. Jahrhunderts mit allen Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten, die international agierende Märkte hervorrufen, doch nimmt man am Bosporus die Herausforderung offensiv an, um sich aus dem Trümmerhaufen einer Geschichte zu befreien, deren Glanz allein noch für nostalgische Romane taugt.

Dem Erfindungsreichtum sind hier keine Grenzen gesetzt, und heilsame Schocks an der Tagesordnung. Berlin kommt einem plötzlich ziemlich leer vor.

Ulrich Peltzer ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien die New-York-Erzählung „Bryant Park“ (Ammann Verlag).