Matt in letzter Sekunde

Der Ungar Peter Leko sah fast schon wie der neue Schachweltmeister aus. Doch dann gewann Wladimir Kramnik die letzte Partie, glich zum 7:7 aus und verteidigte somit seinen Titel

AUS BRISSAGO HARTMUT METZ

Nachdem Peter Leko zwei Züge vor dem Matt die Hand zur Aufgabe und Gratulation über das Schachbrett gereicht hatte, ergriff sie Wladimir Kramnik kurz und warf dann jubelnd die Fäuste in die Luft. Für den Stoiker aus Moskau war dies ein überschwänglicher Gefühlsausbruch, der Grund für diesen freilich war kein geringer: Mit einer Energieleistung rettete der 29-Jährige in der 14. Partie seinen Titel als Schach-Weltmeister. Ein 7:7 genügte Kramnik in Brissago (Schweiz), um den Angriff des Herausforderers aus Ungarn abzuschlagen. Wie schon zwei Vorgänger auf dem WM-Thron, Garri Kasparow 1987 gegen Anatoli Karpow und Michail Botwinnik 1951 gegen David Bronstein, egalisierte der Russe in letzter Sekunde das Ergebnis.

Da war auch die Teilung des Preisgelds von einer Million Franken für Leko kein Trost. „Auch wenn das 7:7 ein gutes Resultat gegen Kramnik ist, reicht es leider nicht für die Schach-Krone“, zeigte sich der Großmeister aus Szeged ebenso enttäuscht wie seine mit angereisten Fans. „Ich bin aber erst 25 Jahre alt und blicke an diesem unglücklichen Tag in die Zukunft“, bemerkte Leko leicht trotzig. Der Weltmeister atmete derweil erleichtert auf. „Ich musste wirklich alles geben. Peter ist ein phänomenaler Verteidiger und hat mich mehr gefordert als Garri Kasparow bei meinem Titelgewinn 2000. Kasparow ist ein Genie, aber sehr emotional. Seine Schwäche spürt man. Dagegen zeigt Peter keinerlei Gefühle, egal wie schlecht er auf dem Brett steht. Er ist ein Sportsmann“, lobte der alte und neue Weltmeister den Besiegten.

Diese Trumpfkarte hat Leko nach Ansicht der Experten allerdings nicht ausreichend eingesetzt. In dem in der ersten Hälfte als „Kuschelwettkampf“ verspotteten Duell gönnte der exzellente Fußballer dem physisch deutlich schwächeren Kontrahenten zu viele kurze Unentschieden und damit Ruhephasen. „Leko kann man nach diesem Match nur eines vorwerfen: Die kurzen Remis waren gegen seine Interessen. Nach dem großartigen Sieg in der achten Partie hätte Leko Druck machen und nachsetzen müssen“, befand der deutsche WM-Kommentator Artur Jussupow. Der dreifache WM-Halbfinalist aus Weißenhorn glaubt auch an einen „verpassten K.o.-Schlag in der zwölften Partie“. In dieser hatte sich Leko phänomenal verteidigt, offerierte dann aber mit zwei Mehrbauern eine Punkteteilung gegen den wankenden Kramnik. Weltklassespieler Jewgeni Barejew, der Kramnik als Sekundant half, glaubt, dass der auch in Runde fünf siegreiche Magyare nach der 4,5:3,5-Führung zu sehr auf Halten spielte. Barejew: „Hätte Leko die zwölfte Partie gewonnen, wäre das Match mit dem 7:5 entschieden gewesen.“

So kam es, „wie es oft im Fußball kommt: Eine Mannschaft stellt sich hinten rein, und die in Rückstand liegende übernimmt die Initiative“, verglich Jussupow. Übersetzt aufs Schachbrett hieß dies: Bereits in der 13. Partie besaß Kramnik Siegchancen. Bei seinem zweiten Erfolg nach seinem glücklichen Auftaktsieg in Runde eins zog der Weltmeister immer mehr die Daumenschrauben an. Im Endspiel opferte Kramnik zwei Bauern, um mit dem weißen König ins schwarze Lager einzudringen. Die Euphorie der ungarischen Kolonie wich Totenstille. In Zusammenarbeit mit dem verbliebenen Turm und Springer knüpfte Kramniks Monarch nach vier Stunden ein Mattnetz, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. „Es war ein Drama, wie sich noch alles umkehrte“, erklärte TV-Kommentator Helmut Pfleger und erhob den letzten Akt der WM zu einem Meisterstück, das „in die Schach-Geschichte eingehen wird“.

Auch das Publikum war nach dem langweiligen Beginn versöhnt. Während im Centro Dannemann im Durchschnitt etwa nur rund 100 Zahlende pro Partie saßen, kletterte die Zahl der Live-Zuschauer auf der WM-Webseite in den sechsstelligen Bereich. Die Fans beschäftigte nach Kramniks Erfolg sofort wieder die Frage, ob es nun zu einer Titelvereinigung kommt. Beim Schach-Weltverband Fide wurde der Weltranglisten-47. Rustam Kasimdschanow Weltmeister. Der Usbeke soll im Januar in Dubai, wo für mehrere Milliarden Dollar eine Schachstadt mit Hochhäusern aus dem Erdboden gestampft wird, die Springern, Läufern oder Bauern ähneln, gegen Garri Kasparow antreten. Der Noch-Weltranglistenerste hatte 1993 die Abspaltung von der Fide betrieben und war nach seiner Schlappe 2000 gegen Kramnik in den Schoß des Weltverbandes zurückgekehrt. Der opportunistische Grund damals: Kasparow erkannte, dass er von seinem Landsmann Kramnik keine Revanche geschenkt bekommt. Über einen Umweg schafft er es nun wohl doch.