Unruhe in Roulettenburg

Es ist der Diskurs der Ökonomie, Dummkopf: In dem Stück „Zocker“ nach Dostojewski baggert Johan Simons an der Berliner Volksbühne in den Suchtkulturen des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart

Ausgeblendet ist jene Spur des Wahnsinns in den Figuren, der nicht anschlussfähig ist an den Diskurs der Ökonomie

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wo befinden wir uns? Der Ort des Spiels wird in „Zocker“, der ersten gemeinsamen Produktion von Johan Simons und seinem Ensemble ZT Hollandia mit der Volksbühne Berlin, gleich mehrfach besetzt. Die alten Karossen, die unter einer leer vor sich hin blinkenden Werbetafel kreuzen, siedeln die Bühne irgendwo an der Grenze zwischen dem alten Wohlstand des Westen und dem neuen Reichtum des Ostens an. Die Frauen, die in langen Pelzmänteln und glitzernden Pants an dieser Verschiebestation zu wohnen scheinen, lassen zunächst an Autostrich denken. Doch ihre Geschäfte sind entschieden einige Nummern größer – sie verkaufen Bagger und Aktien, nicht Sex und Gefühl. In ihrem Tross mit reist der Spieler, eine Figur aus Dostojewskis gleichnamigem Roman. Mit ihm verwandeln sich auch die anderen in Russen im Spielcasino von Roulettenburg. Aber ob sie nun den General oder Mademoiselle Blanche spielen, wie die in Dostojewskis Roman auf Erbschaft oder Spielgewinn spekulierenden Hochstapler heißen, oder Gloria, Karl und Petra, die sich ihre neu gegründeten Firmen untereinander verkaufen, um neue Kredite abzugreifen, macht im Grunde keinen Unterschied.

Es ist immer der gleiche Wahnsinn, der sie treibt. Die Analogien zwischen der Sucht der Spieler am Roulettetisch und dem Kalkül der Geschäftemacher funktionieren reibungslos, die Passagen des Romans und die Geschichte des Baggerkonsortiums greifen wie Zahnräder ineinander. Die einen wie die anderen wissen, dass sie gegen alle Vernunft handeln, wenn sie immer wieder alles auf Spiel setzen; die einen wie die anderen werden großartig spitzfindig in ihren Argumenten, warum sie weiterspielen müssen; die einen wie die anderen können schließlich Gewinnen und Verlieren kaum noch auseinander halten. Die Zustände von Verzweiflung und Euphorie fließen ineinander.

Dieses Switchen zwischen den Paralleluniversen der Suchtkulturen des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart könnte schnell zu einem Lehrstück verkommen, würden nicht die großartigen Performerinnen Betty Schuurman, Elsie de Brauw (beide ZT Hollandia) und Astrid Meyerfeld (Volksbühne) aus der Doppelung der Rollen ein eigenes Spiel machen. Wenn zum Beispiel Elsie de Brauw mit den Worten des Romans beschreibt, wie Mademoiselle Blanche aussieht und sich inszeniert, macht sie das Vorspielen der Rolle überflüssig und verhält sich somit als Schauspielerin sehr ökonomisch. Oder Astrid Meyerfeld, General und Generalunternehmer, die mittendrin die Wut packt über diese Scheißmännerrolle und wie langweilig sie eigentlich Bagger findet: In solchen Momenten ist ihre Präsenz am größten.

Unbegreiflich aber bleibt Polina, schon im Roman eine Figur, die man von ihren Launen genervt gerne einmal schütteln und anbrüllen möchte: „Was willst du eigentlich?“ Alexej, der Spieler, der auf ihre Liebe hofft, sollte das eigentlich tun. Aber er kommt nie darüber hinaus, ihr durch Selbsterniedrigung imponieren zu wollen. Mira Partecke führt ihre Polina seltsam unbeteiligt vor, jemand, der nie bei sich ist. Damit stellt sie genau jene Irritation her, die auch den Romanleser völlig fertig macht.

Es ist diesmal nicht die teilweise Übertragung der Szenerie per Video, die das Stück so nahe an filmische Stimmungen heranbringt, sondern das Bühnenbild von Bert Neumann. Autoscheinwerfer im Regen; das sinnlose Umsetzen der Wagen, wenn die innere Unruhe nach äußerer Bewegung verlangt; der melancholische Rückzug hinter nasse Autofenster: Aus diesen Elementen schneidet man sich ein Roadmovie im Kopf zusammen.

Doch den schönen Bildern zum Trotz beginnen nach etwa der Hälfte der Zeit die Wiederholungen, das Heißlaufen der Maschine, die Exzesse der Sucht zu langweilen, auch wenn man weiß, dass dieses Nicht-enden-Können eben die fatalste Folge des Systems ist. Man erfährt nichts Neues mehr. Dass es mal um eine Liebesgeschichte ging, fließt mit dem Bühnenregen davon. Dass es mal um Macht ging, nivelliert sich im Auf und Ab.

Der Regisseur Johan Simons, der das ZT Hollandia seit 1993 leitet, beginnt mit dieser Koproduktion seine Zusammenarbeit mit der Volksbühne. Vergleicht man Simons Inszenierung mit Castorf Bearbeitungen von Dostojewski-Romanen, dann scheint die Adaption des Niederländers einfacher. Ausgeblendet ist das Mystische und Inkommensurable der Romane, jene Spur des Wahnsinns in den Figuren, der nicht anschlussfähig ist an den Diskurs der Ökonomie. Bei Simons geht alles in ihm auf, bei Castorf dagegen war die Begleitmelodie der Philosophie, die sich das alles noch mal und anders zu erklären versucht, deutlicher zu hören. Dennoch scheint die erste Inszenierung Simons an der Volksbühne wie die Ankunft in einem Heimathafen.