Eine Art Zeitarbeit

In Fargo leben 90.000 Menschen. Die Kleinstadt im Mittleren Westen wächst.Eigentlich kein Wunder bei Einwohnerinnen wie Meredith Olafson, Fargos Supermutter

VON ANDREA BÖHM

Es dauerte anderthalb Tage, dann hatte sich Fargo mit seinen Geräuschen in mein Gedächtnis eingeprägt: ein leises Fauchen in der Luft, das sich manchmal ins Heulen steigerte; dazu das Rascheln flatternder Plastiktüten und Papierreste, die eine Bö irgendwann gegen Autos oder Briefkästen klatschte. Man verzeiht einer Stadt den Wind, wenn sie am Meer liegt. Fargo liegt nicht am Meer.

Skandinavische Immigranten hatten sich bei der Besiedlung des Landes die klimatisch mit Abstand unfreundlichste Region ausgesucht. Im Winter versank man bis zum Bauch im Schnee, erduldete Temperaturen von bis zu minus vierzig Grad – und dann der Wind. Die Bewohner ertrugen diese Widrigkeiten mit einem Stoizismus, den man im Rest des Landes gern als ethnisch eingefärbte Bräsigkeit verspottete. Städte und Dörfer, deren Telefonbücher Unmengen an Nielsens, Ekbergs und Gustaffsons auflisteten, hatten ein eigenes Tempo, eine eigene Art, das Leben überschaubar zu halten.

In den letzten Jahren waren nicht nur bankrotte Farmer nach Fargo gezogen, sondern auch Flüchtlinge vom Balkan und aus Afrika. Doch eigentlich war ich nicht wegen eingewanderter Somalier nach Fargo gefahren. Ich wollte eine Lokalheldin treffen: Meredith Olafson, Fargos Supermutter.

Die Olafsons lebten in einer ruhigen Wohnstraße mit geduckten Häusern. Vier kleine Zimmer, Küche, Keller, Garage und ein bisschen Garten waren nicht gerade fürstlich für eine Familie mit vier Kindern, aber es war besser als das Apartment, in dem sie vorher gewohnt hatten. Die Tür zum Haus der Olafsons war jederzeit offen, was es fast unmöglich machte, sich in Ruhe zu unterhalten. Die zwei jüngsten Kinder, Trevor, acht, und Krissy, neun, galoppierten mit Horden von Nachbarskindern durch das Wohnzimmer in den Garten, hingen in der Schaukel, verlangten Eiskrem oder Pepsi und vergaßen es im nächsten Moment wieder. Dazwischen räkelten sich mit der trägen Genervtheit pubertierender Mädchen die beiden älteren Töchter, Michelle, sechzehn, und Jessica, vierzehn, samt Freundinnen, und mittendrin stand Meredith Olafson wie ein Schiffslotse, der das Chaos genoss und sich darauf beschränkte, die schlimmsten Kollisionen zu verhindern. Sie hatte praktische kurze Haare, trug praktische Trainingshosen und Turnschuhe.

Mir waren die Olafsons vom ersten Moment an sympathisch. Sie waren unsentimental und herzlich. Bei den Olafsons galt: Kinder, die hinfielen, standen meistens wieder auf, dreckige Füße und Hände waren Zeichen eines gesunden Spieltriebs; gegen die Nöte der Pubertät halfen Sport oder ein Ferienjob.

Ehemann Jay hatte nach dem College seinen Wunschberuf als Grundschullehrer gar nicht erst angetreten und umgesattelt auf Assistant Produce Manager bei Hornbacher’s, einem Supermarkt. Als Lehrer hätte er in North Dakota in seinen ersten Berufsjahren 12.000 Dollar im Jahr verdient. Als stellvertretender Produktmanager musste er zwar jeden Morgen um vier Uhr aufstehen, um rechtzeitig zur Anlieferung der Frischware im Laden zu sein. Aber dafür verdiente er immerhin 22.000 Dollar brutto im Jahr und hatte Anrecht auf zwei Wochen Urlaub.

Hornbacher’s war ein Arbeitgeber vom alten Schlag, der keine Gewerkschaften mochte, aber seinen Angestellten noch Sozialleistungen bot. Deswegen waren die Olafsons im Gegensatz zu 42 Millionen anderen Amerikanern krankenversichert. Mit Jays Jahreseinkommen allein wäre die sechsköpfige Familie unter die Armutsgrenze gefallen. Doch Meredith arbeitete als Vollzeitkrankenschwester in einer orthopädischen Praxis und betreute dreimal die Woche abends querschnittsgelähmte Patienten. Dafür brachte auch sie pro Jahr 22.000 Dollar nach Hause. Das reichte nach Abzug der Steuern gerade, um die Raten fürs Haus abzustottern, Strom, Gas und Wasser zu bezahlen, den Kühlschrank zu füllen, die Kinder einzukleiden, Trevor ins Sommerlager oder Krissy zum Tanzkurs zu schicken. Drei Autos waren zu finanzieren – je eines für Jay und Meredith, damit sie zur Arbeit kamen, eines für Michelle.

Meredith Olafson gönnte sich einen „faulen“ Tag in der Woche. Sonntags schlief sie aus, bis halb neun. Was immer ihr die Kinder dann an freien Stunden übrig ließen, verbrachte sie mit ihrem Ehemann auf dem Golfplatz. Ich horchte auf leise Anzeichen sozialen Unmuts im Hause Olafson. Nichts.

Jay Olafson, ein bäriger Mann mit zu vielen Pfunden um die Hüften, misstraute Gewerkschaften, weil sie seiner Meinung nach vor allem die Arbeitsmoral untergruben. Meredith fand, dass Protest und Streit nicht so recht zum Mittleren Westen passten. Hier regelte man Probleme lieber gütlich, per Handschlag. Alles in allem gab es nicht viel, worüber sich die Olafsons beklagen wollten. Sie pochten lediglich auf eine klassenlose Gesellschaft auf dem Golfplatz. Jay spielte mit Handicap 1, Meredith mit Handicap 26. Wenn sie nicht gerade wieder kurz vor einer Entbindung stand. Denn hin und wieder übernahm Meredith Olafson noch einen dritten Job. Eine Art Zeitarbeit. Ihr Frauenarzt hatte sie auf die Idee gebracht.

Meredith Olafson erledigte die Aufgaben in ihrem Leben mit der fröhlichen Energie eines Menschen, der sich Erschöpfungs- und Leidensphasen nicht leisten kann – und stolz darauf ist. Das galt auch für ihre Schwangerschaften. Ihr wurde nie schlecht, sie fühlte sich euphorisch, setzte kaum Pfunde an und hielt sich nie lange im Kreißsaal auf. Sie hatte Michelle, ihre Älteste, nach fünfundsiebzig Minuten Wehen in die Welt geschubst und diese Zeit bei der Geburt von Trevor auf fünfzehn Minuten reduziert. Der Doktor war beeindruckt: „Meredith, Ihre Schwangerschaften verlaufen wie im Bilderbuch. Sie wären die ideale Leihmutter.“ Das war 1996.

Acht Jahre und acht Babys später sagte Meredith Olafson: „Das Geld war nie ausschlaggebend.“ Ich glaubte ihr sofort. Ich hatte über die Jahre mehrere Leihmütter interviewt und dabei zweierlei gelernt: Erstens konnten sich Frauen, die schon Kinder hatten, ohne weiteres von einem Baby trennen, das neun Monate in ihrem Bauch herangewachsen war. Zweitens merkten sie mit Stolz, dass die vermeintlich selbstverständliche Fähigkeit des Gebärens zur Heldentat wurde, wenn man die Kinder anderer zur Welt brachte. Zu einer gut honorierten Heldentat.

Der Entschluss zur Leihmutterschaft fiel nach nur kurzer Beratung im Familienkreis. Jay hatte nichts dagegen, dass sich seine Frau die Embryonen fremder Leute einsetzen lassen würde. Für die Kinder sprach stellvertretend Michelle: „Hauptsache, du bringst die Babys nicht nach Hause.“ Meredith Olafson füllte einen Berg von Formularen für eine Agentur in Colorado aus, ließ sich psychologisch testen, gynäkologisch untersuchen, reichte Leumundszeugnisse ein – und zog alles zurück, als sie erfuhr, dass die Agentur pro erfolgreiche Vermittlung 15.000 Dollar kassierte. So machte man das nicht im Mittleren Westen. Meredith Olafson wollte ihre Leihmutterschaften selbst aussuchen. „Zwischen dem Paar und mir muss es funken“, sagte sie. „Sonst geht es nicht.“

Also machte Meredith Olafson sich und ihren Bauch zu einer informellen Ich-AG, zu einem Einefrauunternehmen, ohne offiziellen Eintrag und Büroanschrift. Mund-zu-Mund-Propaganda ersetzte den Werbeetat. All das lag im Bereich des Legalen. Leihmutterschaft war in North Dakota erlaubt, solange die Leihmutter kein Honorar erhielt, sondern nur ihre Kosten zum Lebensunterhalt gedeckt wurden.

Die ersten Interessenten stammten aus einer Kleinstadt unweit von Fargo, Judy und Dan. Sie war Reisekauffrau, er hatte eine kleine Baufirma. Man traf sich bei den Olafsons, mochte sich und setzte beim Anwalt einen Vertrag auf, wonach Judy und Dan sämtliche medizinischen Kosten übernehmen sowie Meredith für die Zeit der Schwangerschaft einen „Unterhalt“ zahlen würden. Im August 1998 ließ sich Meredith Olafson drei Embryonen einsetzen, die mit Dans Sperma und Judys Eizellen in der Petrischale gezeugt worden waren.

35 Wochen später entband sie per Kaiserschnitt drei gesunde Babys: Brooke, Megan und Nicholas. Drei Jahre darauf gebar sie – ebenfalls per Kaiserschnitt – Zwillinge für Alex und Victoria, ein russisches Immigrantenpaar. Nach beiden Geburten erschien sie vierzehn Tage später stolz wie eine Schneekönigin wieder zur Arbeit in der orthopädischen Klinik. „Guten Morgen, Meredith, sind wir heute wieder schwanger?“ wurde zu einer Standardbegrüßung.

Leihmutterschaft war in den USA anfangs ein Phänomen unter Arbeiterfamilien. Frauen, die keine Kinder bekommen konnten, fanden Freundinnen oder auch ihnen unbekannte Mütter, die für sie ein Baby austrugen. Dabei wurde weder Honorar noch „Unterhalt“ gezahlt. In-vitro-Fertilisation war noch relativ unbekannt, und die meisten kinderlosen Paare hätten sich eine solche Prozedur auch nie leisten können. Also fand die Zeugung mit bescheidenem technischem Aufwand statt. Die Leihmutter injizierte sich das Sperma des zukünftigen Vaters und wurde so zur biologischen Mutter des Kindes, das sie nach der Entbindung aus den Händen gab. Kaum gingen die ersten Fälle durch die Presse, tauchten die ersten Mittelsmänner auf. Rechtsanwälte und Geschäftsleute boten Rechtsberatung und Vermittlungsdienste an. Binnen weniger Jahre gesellten sich zu Spermabanken und Eizellverkäuferinnen auch Leihmutteragenturen mit so fürsorglichen Namen wie „Mother Goose“.

Aus einem altruistischen Akt war ein einträgliches Geschäft geworden, dem der Staat kaum Grenzen setzte. Der Markt würde sich schon selbst regulieren – etwaige Probleme würden die Gerichte lösen müssen. Manche Agenturen ließen keinerlei Kontakt zwischen Paaren und Leihmüttern zu, andere kontrollierten den Alltag schwangerer Leihmütter, da diese das „Eigentum anderer Leute“ in sich trugen. Dafür kassierten sie Gebühren von 30.000 Dollar und mehr. Wohlhabende Paare boten Leihmüttern bis zu 100.000 Dollar – die meisten in dem verzweifelten Wunsch, endlich ein Kind zu haben; manche, weil die Frau ihre Karriere nicht unterbrechen oder ihre Figur nicht ruinieren wollte. „Solche Paare würde ich bei mir gar nicht durch die Tür lassen“, erklärte Meredith. „Für Leute, die faul sind, machen wir so was nicht“, ergänzte Jay.

Die Olafsons hatten inzwischen eingesehen, dass bei einer Leihmutterschaft außer Sympathie für das andere Paar auch ein umfangreicher Vertrag nötig war. Da war zunächst das Geld: Meredith Olafson bekam für jeden Einsatz als Leihmutter rund 25.000 Dollar. Das waren rund 2.700 Dollar pro Monat, fast 900 Dollar mehr, als sie als Krankenschwester verdiente. Dann waren juristische Fragen zu klären: Was passierte, wenn den Auftraggebern während der Leihmutterschaft etwas zustieß? „Sie müssen im Vertrag Erziehungsberechtigte benennen. Denn abtreiben würde ich in einem solchen Fall nicht.“ Meredith legte schriftlich ihre Bereitschaft fest, auch Mehrlinge auszutragen, was bei ihrer „Trefferquote“, wie sie es flapsig nannte, eher die Regel denn die Ausnahme war. „Und was passiert, wenn Sie Drillinge kriegen und die Eltern höchstens Zwillinge wollen?“, fragte ich. „Steht alles im Vertrag“, sagte Meredith Olafson. „Wenn die Eltern reduzieren wollen, dann mache ich das.“

Selective reduction nennt man diesen Eingriff, bei dem ein oder mehrere Föten durch eine Injektion im Bauch der (Leih-)Mutter abgetötet werden. Aus mir schleierhaften Gründen ist diese Praxis nie ins Visier der ansonsten gnadenlosen Abtreibungsgegner geraten. Auch Meredith, die für sich selbst einen Schwangerschaftsabbruch weit von sich wies, hatte nichts gegen eine „selektive Reduktion“. Bisher war das Problem nicht aufgetaucht. Bisher hatte sie mit keinem Paar irgendwelche Zwistigkeiten, geschweige denn einen Rechtsstreit gehabt. „Im Mittleren Westen machen die Leute so was nicht“, sagte sie. Den Satz kannte ich schon.

Mit dem unerschütterlichen Glauben an ihre Physis hatte sich Meredith letztes Jahr wieder vier Embryonen einsetzen lassen, dieses Mal für Roger und Debby, wieder ein „wirklich nettes“ Ehepaar aus Fargo, das achteinhalb Monate später überglücklich Drillinge in Empfang nahm: Randi, Cole und Carter. Dieses Mal allerdings sandte Meredith’ Körper ein Warnsignal: Kurz vor der Entbindung diagnostizierte der Arzt bakterielle Giftstoffe im Blut. Nach der Geburt musste sich Meredith Olafson eingestehen, dass ihr Körper nicht mehr konnte. Sie blieb nach der Entbindung durch Kaiserschnitt acht Wochen zu Hause. „Dann war das wohl die letzte Leihmutterschaft“, sagte ich. „Oh, einmal geht schon noch“, antwortete sie und mischte die Fotos ihrer zwölf Babys auf dem Wohnzimmertisch, als wollte sie eine Partie Memory spielen.

Sie war jetzt 39, aber einmal wollte sie es noch versuchen – und kein Arzt, kein Gesetz konnte sie davon abhalten. Noch ein Mal wollte sie das unbeschreibliche Gefühl genießen, zwei fremden Menschen die lang ersehnten Kinder in die Arme zu legen. Das Geld mochte nicht das treibende Motiv sein, aber gebrauchen konnten es die Olafsons allemal. Mit dem „Unterhalt“ der ersten drei Leihmutterschaften hatten sie Schulden abgezahlt, das Haus renoviert, zum ersten Mal Urlaub in Florida gemacht. Mit der vierten Leihmutterschaft wollte Meredith Olafson einen College-Fonds für ihre eigenen Kinder finanzieren, mit der fünften vielleicht ihre private Altersversicherung. – „Ich dachte, sie wollten es nur noch einmal machen?“, sagte ich. „Oh, vielleicht geht auch zweimal.“ Sie hatte schon das nächste Paar gefunden, „nette Leute, die wir beim Bowling kennen gelernt haben“.

„Kommen Sie gut nach Hause“, rief sie mir zum Abschied nach. Im Rückspiegel sah ich, wie sie winkte, sich umdrehte und ein paar alte Kisten auf einen Haufen wuchtete. Vielleicht hatte mich die anscheinend unerschöpfliche Energie der Supermutter ermüdet. Bis Chicago waren es 1.120 Kilometer. Ich gab den Leihwagen ab und kaufte ein Flugticket.

ANDREA BÖHM war langjährige USA-Korrespondentin der taz. Ihr Text ist ein gekürztes Kapitel aus ihrem Buch „Die Amerikaner. Reise durch ein unbekanntes Imperium“, Herder Verlag, Freiburg 2004, 204 Seiten, 19,90 Euro