Die Pannenhelfer sind schon da

Es gibt 1,6 Millionen neue Wähler. Keiner weiß, wem sie ihre Stimme geben werden

AUS ST. PETERSBURG UND TAMPA MICHAEL STRECK

Lannie Donaldson wird den ganzen Wahltag in seinem zum Dispatcher-Wagen umgebauten Ford sitzen, durch die Stadt fahren und in den Wahllokalen nach dem Rechten schauen. Jedes Lokal ist ihm mit einem eigenen Funkgerät zugeschaltet, sie hängen an seinem Armaturenbrett. Wann immer es technische Probleme mit Wahlcomputern, Einschüchterungsversuche oder andere Unregelmäßigkeiten geben sollte, wird Donaldson gerufen. „Wer die Wahlen wirklich stören will, der muss schon mein Auto stehlen oder die Funkverbindungen kappen“, scherzt er.

Donaldson, ein schmächtiger Mann, der beim Sprechen bis zu den Ohren lächelt, wartet auf dem satt grünen Rasen vor dem „Enoch Davis Community Center“ im Schwarzenviertel von St. Petersburg auf Bürgerrechtler Jesse Jackson. Mit ihm warten rund drei Dutzend Vertreter örtlicher Menschenrechtsgruppen und Kirchen, aber auch Wahlbeobachter aus anderen Landesteilen. Kurz vor dem Urnengang wollen sie vor versammelter Lokalpresse noch einmal faire Wahlen anmahnen und vor allem Schwarze zur Stimmabgabe bewegen. Die Luft ist schwülheiß, dennoch sind die meisten in feinen dunklen Anzügen erschienen, als würden sie zur Sonntagsmesse gehen.

Der 59-jährige Donaldson, der noch mit getrennten Schulbüchern für Weiße und Schwarze aufwuchs, kämpft seit Jahren in der Bürgerrechtsorganisation „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP) gegen die politische Apathie der Schwarzen und Diskriminierung an den Wahlurnen. „Unsere Großeltern wurden noch dafür verprügelt, dass sie wählen wollten. So lange ich atme, habe ich die Verpflichtung, meine Stimme abzugeben.“

Nach dem Wahlfiasko vor vier Jahren, als sich tausende von Afroamerikanern um ihre Stimme betrogen sahen, beauftragte ihn die Stadtverwaltung von St. Petersburg in einer Art vertrauensbildenden Maßnahme als unabhängigen Beobachter für die Wahlen 2004. Er bezeichnet es schon fast als Erfolg, dass es in den letzten zwei Wochen, seit in Florida die vorzeitige Stimmabgabe läuft, nur einen Computercrash gab und sich die Klagen über Wahlhelfer in Grenzen hielten. Für den eigentlichen Wahltag ist er nun vorsichtig optimistisch. „Ich glaube nicht, dass es hier eine Wiederholung von 2000 geben wird. Woanders bin ich mir jedoch nicht sicher.“

Der selbst ernannte „Sunshine State“ ist derzeit der unberechenbarste und unübersichtlichste US-Bundesstaat. Er ist das Land der heißen Träume für Amerikaner aus dem kalten Norden, der monotonen Rentnersiedlungen und prachtvollen Prominentenvillas, der Orangenplantagen und Disneyland-Parks. Es ist das Land, das Hispanics so erfolgreich erobert haben, um sich gleichzeitig zu Hause und in Amerika zu fühlen.

Jeden Tag ziehen 1.000 neue Menschen hierher. Der „Melting Pot“ macht Wahlprognosen zum Glücksspiel. Erschwert werden sie dadurch, dass sich 1,6 Millionen neue Wähler haben registrieren lassen. Niemand weiß, wem sie ihre Stimme geben werden.

Auf dem Rasen vor dem Community Center macht sich Unruhe breit. Jesse Jackson, der Mann auf den sie hier warten, sei im Verkehrsstau stecken geblieben. So greift Gypsy Gallardo, eine Frau mit bebender Stimme, zum Mikrofon. Die schwarze Aktivistin arbeitet für die Organisation „power on!“, die sich zum Ziel gesetzt hat, jene 18.000 schwarzen Bürger zum Wählen zu bewegen, die sich vor vier Jahren in der Stadt zwar registrieren ließen, aber ihr Votum nicht abgaben.

„Es gibt dieses Mal keine Entschuldigung, nicht zu wählen“, donnert Gallardo in die Kameras. Dann wettert sie über die ersten Wahlpannen in Florida. So stürzten in vielen Countys Computer ab und verschwanden in manchen Bezirken zehntausende Briefwahlunterlagen. Die St. Petersburg Times berichtete von Betrügern, die an Haustüren älterer Leute klopften und sich als mobile Wahllokale ausgaben.

Das Misstrauen unter Afroamerikanern könnte hier nicht größer sein. Einen erneuten Bush-Sieg halten viele nur dank einer republikanischen Verschwörung für möglich. Besonders Gouverneur Jeb Bush, George W.s Bruder, trauen sie alles zu, um die Wahl zu seinen Gunsten zu manipulieren. Wie sei es sonst zu erklären, dass Straftäter, vor allem schwarze, von der Wahl ausgeschlossen sind, fragt eine Frau, die auf der Veranda vor ihrem Holzhaus sitzt. „Das Einzige, was hilft, ist, dass so viele wie möglich von uns wählen gehen.“

Dieser Motivationsschub hat in Florida zu einer noch nie da gewesenen Mobilisierung und Wahlbeobachtung durch Bürgerrechtsgruppen geführt. „Es ist vielleicht die bedeutendste Demokratiebewegung der jüngeren Geschichte in unserem Land“, sagt Bob Wing, Direktor von „United for Peace and Justice“, dessen Organisation ein landesweites Notfallteam zusammengestellt hat, das alle Vorfälle über Wahlstörungen in den ganzen USA registrieren soll. Wing ist extra nach St. Petersburg geflogen, um sich mit Bürgerrechtlern wie Donaldson zu beraten. Sicher gebe es auch in anderen Bundesstaaten Probleme, sagt er, doch die ganze Welt schaue auf Florida.

In der Stadtbibliothek von Tampa kann seit zwei Wochen vorab gewählt werden. Eine Menschenschlange ist einmal um das Gebäude gewickelt. Leute wedeln sich mit Fächern Luft zu. Alte Menschen sitzen auf Campinghockern. Am Eingang verteilen die Kerry-Leute Wasserflaschen. Eine Leuchtschrift am gegenüberliegenden Supermarkt blinkt abwechselnd Schnäppchenpreise und die Aufforderung: „Wählengehen nicht vergessen!“ Im Foyer des Wahllokals erklärt eine Helferin, wie die neuen Touchscreen-Bildschirme funktionieren. Die Handhabe ist einfach. Manche begrüßen die neue Technik. Manchen bleibt ein mulmiges Gefühl. Ist die Enter-Taste gedrückt, verschwindet das Votum irgendwohin. Einen Nachweis für eine eventuelle Neuauszählung gibt es nicht. Deswegen hatten Bürgerrechtsgruppen in Florida Klage eingereicht, doch die Landesregierung entschied, die Wahlen trotzdem mit dieser Technik durchzuführen. „Das ist ein Skandal, nach allem was wir hier vor vier Jahren erlebt haben“, sagt ein Mann.

Der elektronische Wahlzettel besteht aus 15 Seiten. Neben der Stimme für den Präsidenten gilt es, Abgeordnete für den Kongress in Washington, für das heimische Parlament, Richter und Polizei-Sheriff für den Bezirk zu wählen. Manche Leute brauchen zehn Minuten, bis sie sich entschieden haben. Eine alte schwarze Frau, die in einem abgetragenen Kleid von der Bushaltestelle Richtung Bibliothek schlurft, sieht die wartenden Massen, bleibt kurz stehen und trottet zurück. Sie könne in der Hitze nicht so lange stehen, sagt sie. „Aber ich komme morgen ganz früh wieder. Wählen werde ich auf jeden Fall. Für Kerry.“

Menschen wie sie sind der Demokraten Hoffnung. Stets profitierten sie von einer hohen Wahlbeteiligung unter Schwarzen. Zudem setzen sie auf die ihnen wohlgesinnten neuen Einwanderer aus Kolumbien und Puerto Rico. Die haben sich vor allem in traditionellen Republikaner-Hochburgen Zentralfloridas, wie im Großraum Tampa/St. Petersburg, niedergelassen und wirbeln dort das konservative Milieu durcheinander.

Selbst die Exilkubaner sind keine sichere Bastion mehr für Bush. Mauricio, der im „Latino Flavour Deli“ hinter dem Tresen steht, favorisierte lange Zeit Bush, weil er den Terrorismus energischer bekämpfe. Dennoch wird er für Kerry stimmen. Der haut ihn zwar auch nicht vom Hocker, aber ihm traut er eine bessere Wirtschaftspolitik zu.

Andere wie Juan nehmen es Bush übel, die Sanktionen gegen Kuba verschärft zu haben. Nun darf er nur noch alle drei Jahre seine Familie in Havanna besuchen und sehr limitiert Geld überweisen. „Das ist unmenschlich“, schimpft er. Alteingesessene Kubaner störe das vielleicht nicht, die hätten ohnehin keine Verbindungen mehr zur Insel. Aber viele Jüngere fühlten sich vor den Kopf gestoßen.

Nicht so Elisabeth Fernandez. Die lebhafte Frau aus Panama ist mit einem Kubaner verheiratet, der Fidel Castro eher heute als morgen ins Grab wünscht. Auf ihrem Auto leuchtet ein „Viva Bush“-Aufkleber. Dem Senior ist sie ewig dankbar, ihr Heimatland vom Diktator Noriega befreit zu haben. Und der Junior ist für sie der Garant, dass Amerika vor weiteren Terroranschlägen verschont bleibt. „Sicherheit zählt für mich derzeit mehr als die Reform der Krankenversicherung“, sagt sie. „9/11 hat die Prioritäten verändert.“

An jenem Tag im September 2001 saß Bush im Klassenraum einer Grundschule in Sarasota, südlich von Tampa. Jene berühmten sieben Minuten starrer Untätigkeit, Bushs ausdrucksloses Gesichts beim Vorlesen des Kinderbuches, all das bringt Frank Stevens noch heute in Rage. Der bärtige Vietnamveteran steht seit drei Stunden mit seinem John-Kerry-Schild an einer Kreuzung in diesem aufgeräumten Badeort, wo vor allem konservative weiße Frührentner leben oder überwintern.

Stevens kann einfach nicht verstehen, wie man Bush noch immer als führungsstark und entscheidungsfreudig charakterisieren kann. Den Irakkrieg hält der langjährige Pentagon-Mitarbeiter für einen katastrophalen Fehler. „Außen- und militärpolitisch ruiniert Bush unser Land.“

Von einem Ruin ganz anderer Art zeugen die vielen Fotos und Zeitungsausschnitte die überall in Tampas Geschäften hängen. Gleich zwei Wirbelstürme haben weiter südlich eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Die Republikaner erhofften sich durch die Naturkatastrophe einen Stimmengewinn, indem ein hemdsärmeliger Bush medienwirksam zerstörte Orte besuchte, obdachlosen Familien Trost spendete und Milliardenhilfen locker machte. Doch der Retter-in-der-Not-Bonus verpuffte überraschend schnell. Der Bundesstaat stellte jedoch unter Beweis, nicht nur mit Wahlchaos von sich reden zu machen.

Während nun die ganze Welt wieder gebannt auf Florida starrt, hofft Lannie Donaldson, dass seine Funkgeräte am Wahltag still bleiben. „Ich will ins Bett gehen und wissen, dass wir zumindest hier in St. Petersburg faire und freie Wahlen hinbekommen haben.“