Akte X in der Elbmarsch

VON JÜRGEN VOGES

Über zehn Jahre haben Wissenschaftler, Politiker und auch Juristen über die weltweit wohl einmalige Häufung von Leukämie bei Kindern gestritten, die in den Jahren 1989 bis 1991 in der gegenüber dem AKW Krümmel gelegenen niedersächsischen Samtgemeinde Elbmarsch aufgetreten ist. Mit dem Rücktritt von sechs der acht Mitglieder der Expertenkommission, die im Auftrage der schleswig-holsteinischen Landesregierung den Ursachen des Leukämie-Clusters in der Umgebung der Atomanlage nachging, hat dieser die Öffentlichkeit oft verwirrende Streit nun einen wenig erfreulichen, aber adäquaten Abschluss gefunden.

Die zurückgetretenen Wissenschaftler sind mittlerweile überzeugt, dass nicht mehr das AKW Krümmel, sondern ein Unfall im benachbarten GKSS-Forschungszentrum bei Versuchen zur Entwicklung einer Mini-Atombombe zu den Krebserkrankungen geführt haben. Die Landesregierung in Kiel sieht in den zurückgetretenen Experten mittlerweile „Verschwörungstheoretiker“ und ist sicher froh, sie los zu sein.

Ratlose Atomgegner

Ratlos bleiben am Ende des Streits selbst viele AKW-Gegner zurück. Schließlich sprechen die Wissenschaftler, die nun in illegalen Atomversuchen bei der GKSS die Ursache der Blutkrebserkrankungen sehen, zugleich damit das benachbarte Atomkraftwerk von dem Verdacht frei, durch radioaktive Freisetzungen Kinder krank gemacht und auch getötet zu haben. Die gleichen Experten hielten es aber in den 90er-Jahren für erwiesen, dass das AKW Krümmel allein in den Jahren 1989 bis 1991 sechs Leukämiefälle bei Kindern ausgelöst habe, und forderten von der Kieler Landesregierung vehement dessen Stilllegung.

Dass sie letztlich der Öffentlichkeit eine Erklärung für den späteren Freispruch des Atomkraftwerkes schuldig blieben, machte ihre Spekulationen über geheim gehaltene Atomversuche auf dem benachbarten GKSS-Gelände nicht glaubwürdiger. In den frühen 90er-Jahren schien das AKW nämlich zunächst als Leukämieverursacher bereits überführt zu sein.

Es gab da nicht nur die schlimme Häufung der ansonsten sehr seltenen Kinderleukämie. Es gab etwa auch Chromosomenuntersuchungen, bei denen für radioaktive Belastungen typische Schäden festgestellt wurden, und in der Umgebung des AKWs wurden Spuren radioaktiver Stoffe festgestellt, die aus Atomanlagen freigesetzt worden sein mussten. Es fehlte allerdings ein Störfall im AKW Krümmel, auf den die Freisetzungen hätten zurückgehen können, auch wenn es Augenzeugenberichte über Bedienstete im Schutzanzug auf dem AKW-Gelände und angebliche Ungereimtheiten bei den Aufzeichnungen der Überwachungsinstrumente gab. Bei der Suche nach dem Störfall oder der dauerhaften Freisetzung von Radioaktivität in niedriger Dosis traten die kritischen Experten über Jahre auf der Stelle.

Die Wende in der schwierigen Fahndung nach den Leukämieursachen ereignete sich dann in den Jahren 2000 und 2001. Zwei Wissenschaftler der Arbeitsgemeinschaft Physikalische Analytik und Messtechnik aus Gießen fanden bei Untersuchungen im Auftrage der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Umgebung des AKWs und der GKSS-Forschungsanstalt Partikel, die stark Alpha-Strahlen aussandten. Die heißen Teilchen wurden an verschiedenen Stellen gefunden, ihre Radioaktivität überstieg den natürlichen Pegel um mindestens das Zehnfache.

Die Organisation Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg erstattete daraufhin Strafanzeige gegen die Betreiber der beiden Atomanlagen wegen unerlaubter Freisetzung radioaktiver Stoffe und war überzeugt, endlich die Ursache für die Leukämiehäufung gefunden zu haben.

Rätselhafte Perlen

Später machten die Bürgerinitiative und die ihr nahe stehenden Experten den Brand einer Laboreinrichtung auf dem GKSS-Gelände im Jahr 1986 für die Freisetzungen verantwortlich, der angeblich durch Experimente mit millimetergroßen Plutoniumperlen, mit Mini-Atombombenexplosionen, ausgelöst wurde. Allerdings ließen sich seinerzeit schon die Messungen der Wissenschaftler aus Gießen nicht wiederholen. Die Behörden nahmen unter Aufsicht von Vertretern der Bürgerinitiative an verschiedenen Stellen Proben. Im Labor wurden aber nur Radionuklide gefunden, die mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl zu erklären waren.

Am Ende wurde das Ganze dadurch zu einer Glaubensfrage, die vor allem die atomkritische Öffentlichkeit ratlos machen musste. Der Bürgerinitiative konnte nur noch Vertrauen schenken, wer an geheime deutsche Atomtests, einen vertuschten Unfall und zahlreiche manipulierte Untersuchungen glaubte. Möglich ist natürlich vieles, aber das macht es noch nicht wahrscheinlich. Die Ursache für die Leukämiehäufung in der niedersächsischen Elbmarsch wird wohl für immer ungeklärt bleiben.