Bildersammler auf Berliner Straßen

Über 60 Ausstellungen, dazu eine Unzahl von Filmvorführungen, Künstlergesprächen, Tagungen und Diskussionsrunden drängen sich im ersten Berliner Monat der Fotografie. Eine Perle im Megaprogramm ist die Ausstellung „Der Fotograf Willy Römer 1887–1979“ im Deutschen Historischen Museum

Die Erhaltung eines Bildarchivs wie das Willy Römers ist eine öffentliche Aufgabe

VON BRIGITTE WERNEBURG

Der erste europäische Monat der Fotografie, der in Paris, Berlin und Wien gefeiert wird, steht unter dem Thema „Geschichte, Geschichten – Vom Dokument zur Fiktion“. Unfreiwillig allerdings zeigt die Ausweitung des in Paris erfundenen „Mois de la photo“, wie geschichtsvergessen die Veranstalter selbst sind. 1980, im Jahr seiner Inauguration, war in Paris so schrecklich viel nicht los in Hinblick auf die Gegenwartskunst. Die Fotografie erfuhr dagegen international erstmals größere Aufmerksamkeit bei Sammlern, Galerien und Museen. In diesem Moment war die Idee durchaus wegweisend, Paris solle sich an die vorderste Front der Entwicklung setzen und die diversen Initiativen in einem Monat der Fotografie bündeln.

Knapp ein Vierteljahrhundert später, bei der Übernahme in Berlin, wird der Gedanke jedoch nicht mehr wirklich produktiv. Im Gegenteil. Begleitet von einer Unzahl von Filmvorführungen, Künstlergesprächen, Tagungen und Diskussionsrunden konkurrieren nun im November mehr als 60 Fotoausstellungen in der Hauptstadt, darunter hochkarätige und bemerkenswerte Präsentationen. Sie stehlen sich gegenseitig die Schau, wo man glücklich wäre, nur einen Bruchteil der Ausstellungen übers Jahr verteilt genießen zu dürfen. Wie so oft liegt der Grund für die Ausweitung gar nicht in der Sache selbst. Es geht um das Geld, das auch in Paris knapp ist. In der EU allerdings ist es noch reichlich vorhanden. Kaum steigen also Berlin und Wien mit ins Boot, sprudelt die Geldquelle des europäischen Kulturprogramms 2000.

Was im Überangebot des Monats der Fotografie muss man nun unbedingt sehen? Ganz bestimmt den Beitrag des Deutschen Historischen Museums, „Auf den Straßen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887–1979“. Von der Kaiserzeit bis zur Zerstörung der deutschen Hauptstadt im Zweiten Weltkrieg reichen die staunenswerten Fotos. Sie sind eine wirkliche Entdeckung. In dieser Breite ist die Stadt, gesehen von einem Mann, der neben seiner täglichen Arbeit für die Presse aus einem ganz eigenen dokumentarischen Interesse die Stadt und ihre Bewohner fotografierte, kaum je im Bild manifest geworden. Es gilt, was Wolfgang Thierse, der Präsident des Deutschen Bundestags, in seinem Katalogvorwort schreibt. In den Bildern finden sich generationenübergreifendes Alltagswissen und kulturelle Erfahrungen: Dieser Quellenbestand ist durch keinen anderen zu ersetzen. Die Erhaltung und Pflege eines Bildarchivs wie das Willy Römers, das als rarer Einzelfall den Krieg unzerstört überdauerte, ist eine öffentliche Aufgabe. Und doch wurde sie und wird sie noch immer privat geleistet, von dem Fotohistoriker und Hochschullehrer an der UdK, Diethart Kerbs. Er erwarb Römers Bildarchiv Anfang der 80er-Jahre von dessen Frau und Tochter, nachdem diese vergeblich versucht hatten, dafür private und öffentliche Institutionen zu interessieren.

Das fotografische Werk von Willy Römer entstand im Wesentlichen in den Jahren von 1905 bis 1935, mit Beginn seiner Lehrjahre im Kaiserreich und dem Ende der Bildagentur Photothek 1933. Besonders in der Zeit zwischen der Novemberrevolution und der Weltwirtschaftskrise, zwischen 1919 und 1929 nahm Willy Römer sein eigentliches Hauptwerk auf, das neben der tagesaktuellen Fotografie vor allem seine Langzeitbeobachtungen des Berliner Großstadtlebens in all seinen Alltagsfacetten zeigt. Das erste große Kapitel der Ausstellung ist freilich Römers Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg gewidmet, als er in Russland Aufnahmen hinter der Front machte, in denen er das Alltagsleben der Bauern festhielt. Schon hier findet sich in nuce, was das Werk Römers auszeichnet: sein geradezu ethnografisches Interesse an den Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnissen der Menschen seiner Umgebung. Zurück in Berlin war jedoch zunächst die Revolution zu fotografieren, die Demonstrationen, Kämpfe, Barrikaden, Wachposten, die revolutionären Arbeiter und Soldaten sowie die Spuren der Kämpfe, die zerstörten Häuser, Straßen und Plätze. Diese Bilder entstanden schon in eigenem Auftrag, denn 1918 hatte er gemeinsam mit Walter Bernstein die Firma Photothek von seinem Kollegen Robert Sennecke übernommen. Erst nach der Inflationszeit, die er als Elend vor allem der kleinen Leute dokumentierte, fotografiert Römer die Modernisierung von Berlin, 1926 etwa die Errichtung von Plattenbauten im Eichkamp. Währenddessen geht das alte Berlin unter und wird wie der letzte Gebäudekomplex des historischen Altstadtkerns, der Krögel, 1934 abgerissen. In diesen Jahren fotografiert Römer die neuen Verkehrsmittel und Kommunikationstechniken der modernen Metropole, aber auch das alteingesessene Handwerk in Berlin, vielfach aussterbende Berufe; er beobachtet die Kinder auf der Straße, wie sie dort spielten, arbeiteten, nach Essen suchten, ihrer Schaulust frönten und die städtischen Straßen für ihre Bedürfnisse umfunktionierten. Er fotografiert die besser gestellten Arbeiter und Angestellten wie sie am Sonntag in die Natur aufbrachen, ihre Lauben pflegten und dort feierten.

Willy Römers bürgerliche Existenz erfährt ein jähes Ende, als die Nationalsozialisten die „Judenfirma“ – sein Partner Walter Bernstein war jüdischer Abstammung – in den Konkurs zwangen. Danach schlägt sich Willy Römer mehr schlecht als recht als freier Pressefotograf durch und versucht sein Bildarchiv zu vermarkten. Auch die Aufnahmen vom zerstörten Berlin gehören in diese Phase. Doch nun hatte sich der humanistisch genannte Stil der Fotoreportage durchgesetzt, der – anders als Römer– direkt auf die Menschen fokussierte, Elend und Hilflosigkeit scheinbar ungefiltert wiedergab. Vielleicht war Römer deshalb kein wirklicher Wiedereinstieg in die Pressefotografie möglich. Seit 1954 jedenfalls, seinem siebenundsechzigsten Lebensjahr, widmete er sich bis zu seinem Tod mit 92 Jahren ganz der Aufbereitung seines Archivs.

Römers Zugriff auf das kriegszerstörte Berlin, ist, wie Ludger Derenthal vom Fotomuseum in seinem Katalogbeitrag schreibt, „von der Tradition der Vedutenmalerei geprägt, die als Ausweis ihrer Sachlichkeit keine durch ungewohnte Perspektiven mögliche Wertung der Motive vornimmt, sondern eine panoramatische Abwicklung in der Fläche bevorzugt“. Doch dieser Zugriff charakterisiert schon seine frühere Fotografie. Dass er an den Wänden des DHM dank der Kontaktabzüge im Format der Plattenkamera 13 x 18 cm richtig wiedergegeben wird (Teile der Bilder werden auch in großen Neuabzügen noch einmal gezeigt), macht nicht zuletzt den großen Charme der Ausstellung aus. Entzückt von der unprätentiösen, altmodischen Art der Fotografie, möchte man sie eigentlich noch immer gerne mit der Lupe lesen, um die vielen Details auch wirklich zu würdigen, die sich auf den moderaten Abzügen finden.

Bis 27. Februar, Katalog 28 Euro