Die Hölle nach dem Höllenschlag

AUS HAMBURG ROGER REPPLINGER

Es riecht frühlingshaft in der Wohnung von Klaus S., alles sehr ordentlich, keine Fliegen. Das ist wichtig. Klaus S. sieht dem Mann auf den Fotos, die vor Kabul von ihm gemacht wurden, nur entfernt ähnlich. Seine Mutter klagte: „Mein Sohn ist nach Kabul gegangen, zurückgekommen ist ein Fremder.“ Durch das Leben von Klaus S. geht ein Riss.

Es war ein Zufall, dass Klaus S. am Samstag, 7. Juni 2003, kurz nach acht vom Camp Warehouse, in dem er stationiert war, in Richtung Internationaler Flughafen Kabul (KIA) fuhr. Soldaten sollten zum Flughafen gebracht, Soldaten dort abgeholt werden. Inzwischen weiß S., dass es sinnlos ist, über Zufälle nachzudenken.

Ein mit Sprengstoff beladenes gelbes Lada-Taxi raste zwei Kilometer vom Camp entfernt in den Bus. Selbstmordattentat. Es gab 4 tote und 29 verletzte deutsche Soldaten. Klaus S. ging auf der Fahrt zum Flughafen durch den Kopf, „dass für einen Samstag verdammt wenig vor dem Camp los ist“. Die Läden zu, keine Händler, kein Fleisch, das immer schwarz von Fliegen war, und wenn man hupte, stoben die Fliegen auf. Auch auf der Dschalalabad-Route, der Straße in Richtung Flughafen, war kein Verkehr zu sehen.

Klaus S. vermutet, dass die Menschen im Viertel „gewarnt waren“. An diesem Tag sollte eigentlich niemand vom Flughafen abgeholt werden. Samstags nie. Doch weil ausnahmsweise ein Flugzeug ankam, ging auch eines raus. Normalerweise nehmen Soldaten nur den Rucksack mit in den Bus, der sie zum KIA bringt. Das Vollgepäck, Stiefel, Uniformen und so weiter, wird anders transportiert. An diesem Tag hatten die Soldaten ihr Vollgepäck dabei. Zufällig kam ein Busfahrer, der freihatte, ins Camp. Er wurde eingeteilt, das Gepäck zu transportieren.

So war folgender Konvoi auf der Dschalalabad-Route: ein deutscher „Wolf“ – der Jeep der Bundeswehr – mit einer Niederländerin am Steuer, Oberleutnant, Krankenschwester, daneben der deutsche Konvoiführer, dann der ungepanzerte Bus mit dem Vollgepäck, dann der ungepanzerte Bus mit den Soldaten, ein mit Handgepäck beladener niederländischer Laster mit niederländischem Fahrer und Beifahrer. Am Schluss ein „Wolf“ mit dem Flugplaner.

„Der Attentäter muss Tage auf ein lohnendes Ziel gewartet haben“, sagt Klaus S., „das lohnende Ziel waren wir.“ Der Attentäter fährt zunächst neben dem Gepäckbus her, bis er merkt, dass keine Soldaten drin sitzen. Dann rast er in die Falttür des anderen Busses. Schwächste Stelle.

Wenn heute ein Taxi langsam neben S. herfährt, hält er den Arm vor den Kopf. Er weiß, dass „das Quatsch ist, denn dann reißt es einem eben erst den Arm ab und dann den Kopf“.

Klaus S. erinnert sich an einen „Höllenschlag“. Erster Gedanke: „eine Mine“. Der Bus mit den Soldaten schleudert über die Gegenfahrbahn in einen Acker. Das Heckteil des Gepäcklasters fliegt in die Luft, beim Aufprall auf der Straße bricht der Rahmen. Nach ein paar Sekunden wanken erste Verletzte aus dem Bus. Wer unverletzt ist, beginnt mit der Bergung. Afghanen helfen nicht. Es könnten Heckenschützen da sein, das Feld, in dem der Bus steht, könnte vermint sein.

Klaus S. und die anderen holen einen Verletzten nach dem anderen aus dem Bus. Wer vorne saß, lebt. „Die hinten“, sagt S., „waren am Arsch.“ Der Bus ist voll Blut: Türen, Sitze, Boden, Dach. Die Niederländerin kämpft um das Leben eines Schwerverletzten, der noch auf der Straße stirbt. Gliedmaßen auf der Dschalalabad-Route. Obwohl sofort Funksprüche ans Camp gehen, sind niederländische Ärzte- und Sanitäterteams und ein zufällig vorbeikommendes deutsches Sani-Fahrzeug zuerst da.

Die Niederländer kommen vom KIA, der weiter entfernt ist als das Camp. Sie sind schneller, weil die Deutschen – hat S. später gehört – zunächst glauben, es handele sich um eine Übung. Die Verwundeten stehen unter Schock. „Die Leichtverletzten wollten weglaufen“, sagt S. „wir mussten sie wieder einfangen.“ Ein „Verwundetennest“ wird eingerichtet.

Es ist 50 Grad heiß, die Opfer brauchen Schatten. S. sieht einen abgetrennten Kopf und kotzt auf den Acker. Er riecht Blut und Verwesung und „kriegt das bis heute nicht aus der Nase“. Deshalb duften S. und seine Wohnung lind.

Blutlachen und Wunden locken Fliegen an. Klaus S. sieht „unglaublich viele Fliegen“. Mit einer Kraft, von der er nichts wusste, drückt er die verbogenen Sitze des Busses auf, aus denen die Verwundeten alleine nicht mehr herauskommen. Er verliert das Zeitgefühl: „Es waren zwei, drei Stunden, mir kam es vor wie ein Tag.“

Die Verletzten jammern, stöhnen, schreien. „Schreien war das Schlimmste“, sagt er. Er hat Verwundeten die Hand gehalten, sie beruhigt und ihnen gut zugeredet. Als deutsche Sanitäter eintreffen, sagt einer zum bleichen, blutüberströmten Klaus S.: „Du siehst aus wie eine Leiche.“ Er geht, bevor der Bergungstrupp eintrifft. Ein niederländischer Arzt fährt ihn ins Camp. Zusammenbruch. Weinen.

Am nächsten Tag tritt S. zum Dienst an. „Das hat niemand kapiert“, sagt er, „ich wusste, dass ich das tun muss, weil ich sonst das Lager nie mehr verlassen hätte.“ Solange S. in Kabul ist, geht es. Zu Hause geht es los. Es gibt Fälle, da tritt das Trauma erst Jahre danach auf. Die Symptome sind immer gleich. S. schläft nicht mehr. Er liegt nachts wach. Er wird nervös, gereizt. Es gibt Krach in der Familie, mit Freunden. Er kapselt sich ab. Er sieht den Bus. S. kann nicht einschlafen.

Nachts, wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, schleichen sich die Bilder vom Bus heran. Von den Verwundeten, der abgetrennte Kopf. Mit den Bildern kommen Geschrei, Geruch, Fliegen. Sein Körper reagiert wie damals: Anspannung, Panik. Er verkrampft, es ist 50 Grad heiß, das Herz rast. Er steht auf der Dschalalabad-Route. Besser nicht einschlafen. Bald kann er sich nicht mehr konzentrieren: „Hab ich versucht, ein Buch zu lesen, wusste ich auf Seite drei nicht mehr, was auf der ersten stand.“ Freunde reden über Autos, S. interessiert sich nicht mehr für Autos. Wenn jemand etwas erzählt, hört er nicht zu. Er will nur über seine Dinge sprechen, aber vom Bus schweigt er.

Er bleibt in der Wohnung. Dort riecht es gut, keine Fliegen. Er steht am Fenster und schaut auf die Straße. Er isst kaum noch. Er kann weder Briefe noch was anderes schreiben. Er macht lange Spaziergänge, sitzt auf dem Balkon und starrt ins Nichts. Stunde um Stunde. S. wird einsam.

Lange denkt er: „Ich packe das allein.“ Erst als die Familie nicht locker lässt, fährt er für drei Wochen in ein Bundeswehrkrankenhaus, Abteilung Psychiatrie und Neurologie. Klaus S. erfährt den Namen seiner Krankheit: posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Ihm dämmert, der Krieg verletzt nicht nur den Körper, sondern auch Verstand und Seele.

Im Krankenhaus spricht er zum ersten Mal über den Bus. Es geht ihm besser. „Aber ich war noch zu tief drin“, sagt er. Als er wieder zu Hause ist, wird es schlimmer denn je. Er ist schreckhaft, das kleinste Geräusch lässt ihn zusammenzucken, er kann nicht mehr ruhig sitzen, bleibt in der Wohnung, um alles zu vermeiden, was ihn an Kabul erinnern könnte. Das Trauma beherrscht sein Gehirn, seine Erinnerung, alles ist besetzt. Es frisst ihn auf.

Klaus S. hat Schuldgefühle. „Warum habe ich das überlebt?“, fragt er, warum hat es mich nicht erwischt? Bin ich besser als die anderen, schlechter? „Selbstmord erscheint einem irgendwann als eine gar nicht so schlechte Alternative.“

Beim Truppenpsychologen in Kabul hat er den zufällig anwesenden Oberstarzt Karl-Heinz Biesold, Leiter der Abteilung Neurologie und Psychiatrie des Bundeswehr-Krankhauses Hamburg (BWH), kennen gelernt. Ein Behandlungszentrum für Trauma-Patienten: Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute, Sanitäter, vergewaltigte Frauen. Es sind ständig bis zu zehn Patienten im Haus. S. ruft Biesold an.

Klaus S. wird sechs Wochen in Hamburg behandelt. „Man denkt ja, man sei der Einzige, der es nicht wuppt, aber die Einrichtung ist voll“, sagt er. Einige, die das Attentat von Kabul überlebt haben, waren in Hamburg. Die Behandlung nimmt Klaus S. mit, aber er macht Fortschritte. „Das Trauma geht nie mehr weg, aber es beherrscht den Patienten nicht mehr“, sagt Biesold.

Die Psychologen in Hamburg arbeiten mit Muskelrelaxation, autogenem Training, Sport, Musik. „Wenn die Bilder den Patienten zu überfluten drohen, muss er lernen, sich zu beruhigen. Bei anderen schrecklichen Erlebnissen konnte er das auch. Wir arbeiten daran, dass dies auch beim Trauma klappt“, erklärt Biesold.

S. geht mit den Psychologen sein Trauma durch, damit das Gehirn versteht, dass das Erlebte Vergangenheit ist und es deshalb nicht mehr die körperlichen Reaktionen auf das Attentat abruft. Die Psychologen versuchen den Patienten zu vermitteln, „das das Trauma eine normale Reaktion auf ein völlig unnormales Erlebnis ist“, erklärt Biesold.

Für S. sind die Erinnerungen an das Attentat inzwischen „wie ein Buch, das ich wieder zumachen kann“. Er schläft sechs Stunden pro Nacht, macht Sport. Manchmal döst er auf dem Balkon in der Sonne. Trotz Fliegen. Klaus S. hat einen Tinnitus im rechten und ein Dröhnen im linken Ohr. Wenn ihn das stört, macht er die Stereo-Anlage an.

Viele von denen, die im Bus saßen, wollen noch mal nach Kabul. Klaus S. sagt: „Ich muss noch mal hin, ich bin noch nicht fertig damit.“