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: Boshaft und düster wie die isländische Nacht: „Die kalte See“ von Baltasar Kormákur

Ein Patriarch will sein Reich unter seine drei Kinder aufteilen und setzt damit ein Trauerspiel in Gang. Ja, da lässt Shakespeare kräftig grüßen, und wenn in einem erzählerischen Nebenstrang auch noch ein Sohn den Herrscher verdächtig, seine Gattin umgebracht zu haben, um mit deren Schwester zusammenzuleben, dann trifft König Lear auf Hamlet. Es gibt sogar auch den für das elisabethanische Theater typischen Narren, der die Wahrheit spricht. Er wurde von Baltasar Kormákur in die greise Urgroßmutter der Familie verwandelt, die die Oberhoheit über die Fernbedienung hat und deren bissige Kommentare immer genau ins Mark treffen.

Das Königreich von „Die kalte See“ ist eine isländische Fischfabrik. Der alte Thodur hat es satt, sich weiter mit der Konkurrenz durch multinationale Konzerne und Fangquoten abzumühen. Doch keines seiner Kinder will den Betrieb übernehmen, denn sie hassen das dunkle, kalte, nasse Fischerdorf, in dem die Rentiere auf der Straße weiden und Frauen aufpassen müssen, dass sie nicht nachts in der Kneipe vom einzigen Polizisten des Ortes vergewaltigt werden.

Sie hassen auch ihren Vater, der sich seelisch an ihnen allen vergangen hat, und von ihrer großen Abrechung dafür erzählt dieser Film. Mal von den Rentieren abgesehen, ist niemand in diesem Film sympathisch, alle sind sie borniert, eigensüchtig und hochneurotisch. Sohn Agúst lebt in Paris und muss von seiner schwangeren französischen Freundin fast in das Flugzeug nach Island geprügelt werden, Sohn Haraldur hat als Buchhalter der Familie viel Geld unterschlagen und müht sich mit seiner alkoholkranken Ehefrau ab, Tochter Ragnheidur hat es nach einem langen Studium an der polnischen Filmhochschule nur zu einem Werbespot für Babywindeln gebracht und hackt ständig auf ihrem norwegischen Ehegatten herum.

Baltasar Kormákur hat schon seinen Debütfilm „101 Reykjavik“ mit ähnlichen Scheusalen bevölkert, und demontiert hier seine Charaktere noch düsterer und rabiater. Natürlich darf dabei auch der Inzest nicht fehlen. Die familiären Konflikte würden für eine ganze Seifenopernserie reichen, und dieses Konvolut von tragischen Verwicklungen könnte leicht lächerlich wirken, wenn nicht jede Szene so atmosphärisch dicht inszeniert wäre, dass man mit zunehmender Faszination dem Klan bei seiner Selbstzerstörung zusieht.

Da glaubt man den penetranten Fischgeruch, der über dem Ort liegt, fast riechen zu können, und beim Anblick der Walfischschwarten auf dem feierlichen Gastmahl wird einem genau so flau im Magen wie Francoise, der bedauernswerten Freundin von Agúst. Die Situationen mögen grotesk überzeichnet sein, aber die einzelnen Figuren erscheinen dabei verblüffend komplex und glaubwürdig. Da verzeiht man es Kormákur auch, dass er sie alle ein wenig zu viel reden lässt, seine Stärke liegt wohl eher in der Schauspielführung als in der Dramaturgie. Und er kann sehr komisch sein. Sein Witz ist boshaft und so düster wie die lange isländische Nacht.

Und seltsamerweise gibt es eine Parallele zu einem weiteren Misanthropen des Kinos: In Woody Allens neuen „Melinda and Melinda“ spielt in einer Szene ein Pianist das „Ave Maria“ von Bach und eine Frau setzt sich zu ihm ans Piano und beide spielen vierhändig weiter. Genau die gleiche Szene, sogar mit der selben Komposition, findet sich in dem schon zwei Jahre alten „Die kalte See“. Hat der alte Meister etwa bei dem Isländischer geklaut? Wilfried Hippen

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