Achtung, die Inder kommen

VON ANNETTE JENSEN

Steinreiche Inder und indische Großkonzerne gehören nicht zur Vorstellungswelt eines Durchschnittseuropäers. Doch es gibt sie – und sie kaufen inzwischen auch größere Firmen in Industrieländern auf. In diesem Sommer beispielsweise erwarb der indische Mischkonzern Reliance den deutschen Faserhersteller Trevira aus Hettersheim bei Frankfurt am Main. In den vier Werken und Forschungslabors sind gegenwärtig 1.900 Menschen angestellt.

Trevira war einmal Weltmarktführer in der Kunstfaserproduktion. Doch vor sechs Jahren stieß Hoechst das Unternehmen ab. Nach einem kurzen Intermezzo mit einem indonesischen Großaktionär übernahm die Deutsche Bank die Firma. „Die hat uns regelrecht ausgehungert“, sagt Betriebsratschef Günter Guinzenheimer. Wichtige Investitionen blieben aus, die Belegschaft wurde massiv abgebaut. Nun ging der Laden für schätzungsweise 80 Millionen Euro an den indischen Investor.

Der Polyester-Multi

Für Reliance sind das vergleichsweise Peanuts. Denn obgleich die Reliance-Gruppe außerhalb der Heimat noch vielfach unbekannt ist, zählt sie zu den 500 größten Firmen der Welt – und wenn sie im gleichen Tempo weiterwächst wie bisher, könnte sie in zehn Jahren auf Platz 20 liegen, hat die Financial Times ausgerechnet. Schon heute erwirtschaftet das Unternehmenskonglomerat aus Bombay etwa 3,5 Prozent des indischen Bruttoinlandsprodukts, beschäftigt 80.000 Menschen und setzt mehr als 22 Milliarden Dollar um.

Gegründet wurde Reliance vor etwa 40 Jahren von Dhirubhai Ambani, der aus relativ armen Verhältnissen stammt und eine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Karriere hinter sich hat. Zunächst baute er ein Textilhandelshaus auf – und rollte dann die Textilbranche vom Ende der Produktion nach vorne auf. Er erweiterte das Geschäft in Richtung Faserherstellung, anschließend kam die Kunststoffproduktion hinzu und schließlich die Förderung von Öl und Gas. Trevira mit einer gut eingeführten Marke, einer weltweiten Kundenkartei und vielen Patenten zum Beispiel im Bereich feuerfester Stoffe passt gut dazwischen.

Dabei machen die 125.000 Tonnen Fasern, die bei Trevira in Deutschland, Dänemark und Belgien gefertigt werden, gegenwärtig nur etwa 10 Prozent der Reliance-Kapazitäten aus. Bis Ende kommenden Jahres will der Konzern weiter kräftig zulegen: Geplant ist der Bau neuer Fabriken in Indien, in denen jährlich noch einmal 600.000 Tonnen Polyester hergestellt werden. Damit ist Reliance auf diesem Gebiet klar Weltmarktführer. Darüber hinaus interessiert sich der Konzern auch für die zum Verkauf stehende niederländische Firma Basell, ein Joint Venture von BASF und Shell; Basell ist die Nummer eins bei der Produktion von Polypropylen.

Doch Plastik und Textilien allein reichen der Reliance-Gruppe schon lange nicht mehr. Das Unternehmen, das seit ein paar Jahren von den beiden Söhnen des Gründers geführt wird und nach wie vor zu 40 Prozent in Familienbesitz ist – der Rest gehört 3,5 Millionen Kleinaktionären – ist längst auf andere Geschäftsfelder vorgedrungen. Der Konzern betreibt eine eigene Telefongesellschaft und will bald zu den weltweiten Marktführern im Telekombereich zählen. In diesem Jahr schluckte Reliance schon die britische Firma Flag, die weltweit Glasfaserkabel verlegt. Auch in den Bereichen Biotechnologie, Energie und Pharmazie ist Reliance – vielfach mit deutlicher Unterstützung des indischen Staates – aktiv.

Bis vor wenigen Jahren war es für Inder fast unmöglich, im Ausland Geld zu investieren; die heimischen Gesetze ließen das nicht zu. Doch inzwischen hat die Politik sich geändert, und das Land verfügt über 120 Milliarden Euro Devisenreserven, schätzt Dirk Matter, Geschäftsführer der deutsch-indischen Handelskammer. Das Geld stammt aus Exportüberschüssen, Softwareservice für internationale Unternehmen und Überweisungen, die insbesondere in arabischen Ländern arbeitende Inder nach Hause schicken.

Zwar sind indische Direktinvestitionen in Deutschland in der Statistik der Bundesbank bisher eine zu vernachlässigende Größe. Doch sie werden wachsen, sind Beobachter überzeugt. Anders als die koreanischen Familien-Multis waren die indischen Konzerne nämlich immer dem Weltmarkt ausgesetzt und sind somit konkurrenzfähig.

Auch mittelständische Firmen treten als Käufer auf. Als in Deutschland der Generika-Hersteller Esparma mit 70 Mitarbeitern verkauft werden sollte, meldeten gleich zwei indische Firmen Interesse an. Den Zuschlag für neun Millionen Euro erhielt im Juni diesen Jahres Indiens fünftgrößter Medikamentenhersteller Wockhardt. Der hatte auch schon die CP Pharmaceuticals in Großbritannien übernommen. Wockhardt erzielt mittlerweile mehr als die Hälfte seines Umsatzes im Ausland. Der indische Pharma-Verband rechnet damit, dass der Anteil am Generika-Weltmarkt in vier Jahren bei 30 Prozent liegen wird. Derzeit beträgt er 22 Prozent.

Auch auf dem Software-Markt, in dem Inder schon lange ein hohes Renommee genießen, nutzen die Firmen ihre Chancen. Laut einer Studie der Beratungsagentur Deloitte & Touche werden sie bis zum Jahr 2008 bis zu 20 Prozent des IT-Budgets deutscher Großunternehmen erobern. Dies entspricht einem Umsatz von bis zu 14 Millionen Euro. Um auf dem Markt Präsenz zu zeigen, suchen indische Firmen nach Übernahmekandidaten in Deutschland. Die Unternehmensberater rechnen daher mit zahlreichen Firmenkäufen in den kommenden Jahren.

„Viele Leute in Deutschland reagieren verschreckt, wenn sie hören, dass ein Unternehmen aus einem Entwicklungsland eine deutsche Firma aufkauft“, stellt Matter häufig fest. Doch die Globalisierung sei nun mal kein einseitiger Prozess, bei dem die Rolle der Unternehmer automatisch den traditionellen Industrieländern zufalle.

Töchter in Europa

Indische Firmen kaufen allerdings nicht nur Betriebe in Europa auf. Zunehmend gründen sie auch selbst Tochterunternehmen, hat Eckart von Unger beobachtet, der beim BDI für Asien zuständig ist. Nicht nur die großen indischen Software-Häuser wie Wipro, Satyam oder Infosys wollen den deutschen Markt von innen heraus bedienen können. Auch kleine und mittelständische Firmen wagen diesen Schritt. Zum Beispiel die B2B Software Technologies, die Internetportale erstellt und Software für E-Commerce und Internetshops liefert.

2001 gründete die Firma in Kassel ein neues Büro. Die beiden Mitarbeiter in Deutschland recherchieren die Wünsche der Kunden, ihre Kollegen in Indien schreiben die maßgeschneiderten Programme. „Es wäre viel zu teuer, auch das in Deutschland zu machen“, sagt Rainer Knopf, Verwaltungschef der deutschen Niederlassung. Schließlich verdient ein Programmierer in Indien monatlich nur 200 bis 600 Euro. Damit gehört er dort allerdings zur wachsenden Mittelschicht, für die neben einer anständigen Wohnung auch Kühlschrank, Fernseher und Auto selbstverständlich sind.

Während die neu gegründeten Firmen sofort zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland schaffen, könnten bei Trevira zunächst auch Jobs nach Indien abwandern. Dennoch ist die Belegschaft optimistisch. „Reliance versteht was von unserem Geschäft“, sagt Betriebsratschef Guinzenheimer überzeugt. Er hat eben den Mutterkonzern in Bombay besucht. Außerdem sei das Motto des Konzerns: „Wachsen ist Leben“ – während in den vergangenen Jahren immer nur von Abspecken die Rede war. „Im Grunde sind die strukturiert wie Hoechst in früheren Zeiten“, ist Guinzenheimers Fazit. Nun hofft er, dass die neue Mutter Trevira den Weg auf neue Märkte und insbesondere nach Indien ebnen wird.