Schönes Gesamtgemälde

Der Film „Carpatia“ kommt gerade richtig, um in seinen poetischen Bildern dem Winter zu entfliehen. Wenn nur die Verkunstung des Dokumentierten nicht wäre

Filme haben unterschiedliche Funktionen. Sie dienen der Belustigung, als Wachmacher, zur Entspannung. Oder man guckt sie, weil sie in Regionen spielen, die einem sympathisch sind. Den Karpaten zum Beispiel, die sich – allesamt auf dem ehemaligen Gebiet der k. u. k. Monarchie – 1.500 Kilometer von Wien, über die Slowakei, Polen, die Ukraine bis nach Rumänien erstrecken.

Der 127 Minuten lange Dokumentarfilm „Carpatia“ von Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski eignet sich wegen seiner schönen Naturaufnahmen gut dazu, den trostlosen Novembertagen in der nassgrauen Stadt zu entfliehen. Die Reise führt in vom Tourismus noch nicht entdeckte ländlich abgeschiedene Gegenden. Man begegnet Bergbauern, Goldgräbern, Zauberern, Kuhhirten, Chassiden und Sinti, an der polnisch-slowakischen Grenze lebenden Goralen sowie Angehörigen der in Galizien beheimateten Huzulen, die fast ausgestorben sind.

Der Film ist poetisch, die Bilder der Berglandschaften in unterschiedlichen Jahreszeiten sind wie schöne Postkarten. Sie sagen zum Beispiel „es regnet“. Man ruht sich in diesen Bildern aus. In der Höhe der Berge ist man näher am Himmel. Die Gewitter hier sind sehr beeindruckend, und weil Friedhöfe so weit entfernt sind, begräbt man seine Toten auf dem eigenen Hof.

Manchmal denkt man, ist ja irre, mit wie viel alten Möbeln und Gegenständen die Menschen hier zusammenwohnen. An sechs oder sieben karpatischen Orten, in oder vor ihren Häusern oder auch mal am Fluss, erzählen die Leute dort von ihrem Leben. Die Kamera ist auf sie gerichtet; die Fragen der Interviewer hört man nur sehr selten, und wenn, dann ganz leise. Im Allgemeinen wird sehr darauf geachtet, die Schönheit der Inszenierung nicht durch Hinweise auf das Gemachte zu unterbrechen. Das Interesse gilt nicht unbedingt dem Partikularen der einzelnen Geschichten, sondern dem schönen Gesamtgemälde.

Vielleicht ist es dies tendenziell Autorlose, das einen etwas nervt – nicht nur in diesem Dokumentarfilm. Oft wird so getan, als ob es weder Kamera noch Regisseur gebe. Die Verkunstung des Dokumentierten führt dazu, dass die Menschen, ihre Gesichter, Gesten und das, was sie sagen, zum Material werden; dass jeder irgendwann einen Schlüsselsatz sagt und dass diese Schlüsselsätze und -szenen dann wieder den Film strukturieren.

Gustav lebt seit zwanzig Jahren alleine auf seinem Hof. Seine Beine sind kaputt, und er bewegt sich mit seinen Armen voran. Er liebt die Tiere, mit denen er zusammenlebt, schlachtet sie aber auch ohne Skrupel wenn’s sein muss. Er berichtet von einem, der wegen seines Mitgefühls Probleme damit hatte, sein Kaninchen zu schlachten. Die hat er nicht: „Ich töte auch deine Frau, wenn’s sein muss.“ Ein Mann, der in den polnischen Karpaten Christusfiguren schnitzt, sagt, sein Leben sei schief gegangen und „es ist traurig, nur zu zweit zu sein … In unserem Leben passiert nichts.“ Seine Frau dagegen fühlt sich superglücklich in ihrem Leben.

Der mehrfach preisgekrönte Film ist zwiespältig. Einerseits großartige Landschaften, ausdrucksstarke Protagonisten, gemächlich geschnitten – andererseits fühlt man sich auch ein bisschen wie auf einer Journalistenreise, auf der einem zu viele Highlights präsentiert werden.

DETLEF KUHLBRODT

„Carpatia“, Regie: Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski. Deutschland/Österreich 2004, 127 Min.