„Die Zumutung, moralisch zu sein“

Am Hamburger Institut für Sozialforschung untersucht der Privatdozent Werner Konitzer Moralvorstellungen des Nationalsozialismus, wie sie sich in den 1950er und 1960er Jahren weiter fortgepflanzt haben – und welche Folgerungen daraus für die Gegenwart gezogen werden müssten

Die Fragensollten lauten:„Was ist gut?“ und: „Was ist schlecht?“

Gab es so etwas wie eine Ethik des Nationalsozialismus? Und wie haben sich kollektive Moralvorstellungen nach 1945 entwickelt? Wären sie überwunden worden? Nein, sagt Werner Konitzer, der am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) das Projekt „Ethik nach dem Holocaust. Moralische Argumentationen in den Debatten um die Geschichte des Nationalsozialismus“ betreut. Seine These: Man habe sich zwar nach dem Krieg von der faschistischen Ideologie distanziert, jedoch bestimmte Werte weitergegeben. Daraus entwickelt er seine Forderung, „die moralische Debatte als moralische zu führen“. Gestern stellte der Privatdozent seine Forschungsergebnisse erstmals öffentlich am HIS vor. Die taz sprach mit dem Zeithistoriker vor dem Vortrag.

taz: Antisemitismus und Moral – das erscheint zunächst als ein Widerspruch. Welche Moralvorstellungen hatten die Nationalsozialisten?

Werner Konitzer: Es gibt einen Kernbestand an Moralvorstellungen bei den Nationalsozialisten, den man ausmachen kann und die überwiegend bekannt sind: die Konstruktion und Bevorzugung der eigenen Rasse, die Bezeichnung der eigenen Rasse als gut, die Bezeichnung der Gegenrasse als verwerflich und böse. Schaut man sich die harten Rassen-Antisemiten an, so kann man feststellen, dass der Antisemitismus für sie eine eigene moralische Orientierung ist. Hitler hält sich selbst für gut. Er hat tatsächlich als Gegenbild das Böse des Juden.

War das, was heute böse ist, damals gut und umgekehrt?

Dass es umgedreht war, glaube ich nicht. Das würde ja heißen, es habe sich eine Umkehrung, sagen wir 1947, vollzogen. Das Bild, das ich im Kopf habe, ist vielmehr, dass man sich vom Nationalsozialismus distanziert hat. Aber bestimmte Werte hat man weitergegeben, weil sie als moralische Werte selbstverständlich waren. Die Generation, die 1930 geboren wurde, hat eine vollständige nationalsozialistische Moralerziehung. Deren Werte kommen allerdings erst viel später in den 50er und 60er Jahren zum Tragen.

Es schlummert also in allen die nationalsozialistische Moralerziehung.

Ja, genau. Es gibt eine Distanzierung, indem man sagt, wir distanzieren uns generell vom politischen System. Aber dieses Umlernen der Individuen und Gruppen, das ist kein Vorgang, der schlicht mit einem Schlag vor sich geht. Wenn Sie beispielsweise Unterhaltungsfilme aus den 50er Jahren angucken, dann finden Sie darin Gemeinschaftskonstruktionen, die sehr stark mit denen des Nationalsozialismus identisch sind. Nur bestimmte Werte wurden geändert. So ist die Kameradschaft weiterhin wichtig, sie wird dann aber in eine etwas andere Richtung gelenkt.

Hat man sich dann eher auf den Wert Familie konzentriert?

Ja. Wenn man sich zum Beispiel den Film Die Mädels vom Immenhof anschaut, sieht man ein Familienunternehmen, einen Ponyhof. Er verbindet das Glück und die Freude. Hier sind die alten „Kraft durch Freude Momente“, die Gemeinschaftsidee und auch die Anpassung an die Gemeinschaft zu erkennen. Das alles findet aber in einem familiären Wirtschaftsunternehmen statt.

Es wurde also der politische Aspekt weggelassen.

Ja, aber von den Kerntugenden bleibt viel erhalten. Jetzt muss man sich angucken, wie das in den 60er und 70er Jahren weitergeht. Das ist eine umfassende Aufgabe, weil es so etwas wie eine Moralgeschichte von Gesellschaften kaum gibt. Aber das ist der Inhalt meines Projekts. Darin geht es gerade um solche Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Ein weiterer Aspekt ist das Bedürfnis, sich nachträglich moralisch zur Shoa zur verhalten und sich zu rechtfertigen.

Wir haben ja von nichts gewusst!“ –Wäre das die Art Rechtfertigung, die man sich darunter vorstellen kann?

Ich habe dafür ein entfernteres Beispiel. Bei den ersten Kreuzzügen im Mittelalter wurden Massaker in Worms und in Speyer begangen. Diese Massaker hatten noch keine „starken“ Begründungen. Erst 60 Jahre später tauchten solche Legenden wie die vom Ritualmord auf, das heißt spätere Generationen haben die Begründung nachgeschoben. Dieser Moment spielt in der Gegenwart eine große Rolle. Harald Welzer hat in seinem Buch Opa war kein Nazi gezeigt, dass die dritte Generation, also die Enkelgeneration, einen Bedarf an nachträglicher Mythifizierung ihrer Großeltern hat. Dieses nachträgliche Rechtfertigungsbedürfnis, nämlich, dass die eigenen Großeltern gut und nicht böse waren, führt zu verzerrenden Moralvorstellungen.

Aber Rechtfertigung ist doch keine Moral.

Wenn man die antisemitischen Texte liest, sieht es so aus, als sei es eine mit moralischen Gefühlen gespeiste Rebellion gegen das eigene Moralischsein. Es gibt zwei sehr starke Momente in den nationalsozialistischen Texten. Das eine ist die Zurückweisung der Zumutung, dass die Menschen gleich sind. Hierin liegt die Zumutung, moralisch zu sein. Die Zumutung, moralisch zu sein, wird empört zurückgewiesen. Diese Empörung ist moralisch.

Also wehrt man sich gegen den Anspruch moralisch zu sein, indem man moralisch ist.

Ja. Und die antisemitischen Strömungen oder Gefühle, Ideologien, Orientierungen nehmen in dem Moment zu, in dem die Gesellschaft sich umgruppiert, und das eigene Moralischsein problematisch wird und neu definiert werden muss. Meiner Meinung nach befinden wir uns in einer solchen Situation, in der die Latenz solcher Strömungen wieder stärker wird. Ein Beispiel, sich gegen die Zumutung der Moral mit moralischen Gefühlen zu wehren, ist Walsers Formulierung von der Moralkeule. Er sagt, er zittert vor Kühnheit, und er äußert sich empört über eine gewisse Zumutung.

Aber Walser ist doch kein Antisemit!

Die Frage danach, ob jemand ein Antisemit ist, spielt eine große Rolle bei unserer Verständigung darüber, ob jemand im politischen Bereich moralisch gut oder schlecht ist. Wir können sehr viel von den antisemitischen Latenzen entschärfen, wenn wir die moralische Debatte als moralische führen. Die Fragen sollten lauten: „Was ist gut?“ und: „Was ist schlecht?“ Wir sollten den Nationalsozialismus verurteilen, weil er moralisch schlecht war.

INTERVIEW Jennifer Neufend