Wenn Überleben ununterbrochen Sinn macht

Als Band gerade mal zwanzig Jahre durchgehalten und schon gibt’s das Coffee Table Book: Die Melvins und ihre letzten musikalischen und außermusikalischen Unternehmungen

Im Normalfall bringen es Rockbands, die zwanzig Jahre im Geschäft sind, nicht mehr. Es fallen einem auch nur ganz wenige Bands ein, die überhaupt so lange durchgehalten haben – von wiederauferstandenen Surfern auf der Nostalgiewelle und den Stones einmal abgesehen. Unter der Hand voll Rockbands, die zwei Dekaden überlebt haben, gibt es jedenfalls nur wirklich eine einzige, deren Existenz ununterbrochen Sinn gemacht hat: die Melvins.

Selbst als Grunge, zu dessen Vertretern die Melvins fälschlicherweise gezählt wurden, müde und der Paradigmenwechsel hin zu elektronischer Musik eingeläutet wurde, hatten die Melvins noch etwas zu sagen. Die Fokussierung auf den reinen Sound, die Fetischisierung von Geräuschen, die Hinwendung zur Abstraktion, all das vermeintlich Neue an der elektronischen Musik, die gegen die verbrauchte Rockmusik in Stellung gebracht wurde, hatten die Melvins zu der Zeit längst zu Signifikanten ihres Rockschemas gemacht.

Im Laufe ihrer Karriere haben die Melvins alles ausprobiert, was unter Beibehaltung der Dreifaltigkeit Gitarre, Bass, Schlagzeug und im Rahmen der Rockmusik überhaupt möglich ist. Sie haben genauso eine einzige Nummer („Lysol“) auf über dreißig Minuten ausgewalzt, wie sie John Cage zitiert haben und einfach mal minutenlang reine Stille walten ließen („Pure Digital Silence“). Sie zitierten Metal, Hardcore, Industrial, Country und Stoner Rock, Kiss, Alice Cooper und die Deutsche Wehrmacht und errichteten so ein immer undurchschaubareres Koordinatensystem, innerhalb dessen sie sich bewegten, ohne dabei selbst Teil irgendeines Genres zu werden. Die Melvins blieben immer außerhalb, bildeten – und hier trifft diese Floskel wirklich einmal zu – ihre ganz eigene Kategorie.

Dass dem immer noch so ist, dass die Melvins nach all den Jahren immer noch um die Ecke denken können, belegen gleich drei neue, unter ihrer Ägide entstandene Produkte, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Einmal wären das gleich zwei neue Platten. Eine wurde von den Melvins zusammen mit Lustmord eingespielt und nennt sich „Pigs Of The Roman Empire“. Für die andere mit dem Titel „Never Breathe What You Can’t See“ haben die Melvins den Noam Chomsky des amerikanischen Hardcores, Jello Biafra, ehemals Sänger der Dead Kennedys, für ein gemeinsames Projekt aus der Schmollecke geholt. In dieser verschwand Biafra jahrelang, nachdem ihn die Mitglieder seiner ehemaligen Band in einen Rechtsstreit verwickelt hatten. Dabei geht es um Geld, natürlich, in dem Schweinesystem, in dem Biafra zu leben verdammt ist, dreht sich schließlich immer alles ums Geld.

Noch härter als diese Erkenntnis hat Biafra jedoch der Einmarsch der Amerikaner in den Irak getroffen. Und um den dreht sich die Platte dann auch hauptsächlich. Natürlich wird sich aber auch vor der verkommenen amerikanischen Gesellschaft ganz allgemein geekelt, die bekanntlich vom Satan und seinen Helfershelfern persönlich angeführt wird. Biafra ist also wütend wie ein angestochener Stier und die Melvins tun alles dafür, dass er dies auch in einem passenden Rahmen sein kann. Dafür werden sie zu ihrer eigenen Antithese und lassen es einfach recht schnörkellos ordentlich punkrocken, überfordern den Meister also nicht mit irgendwelchen melvinesken Soundgimmicks, sondern erweisen ihm eher dadurch Respekt, dass sie sich selbst verleugnen. Allein das Witzniveau dieses Punkrockauslegers der inneramerikanischen Fundamentalopposition ist recht dürftig. Die Vocals, so liest man im Booklet der CD, stammen in Wahrheit gar nicht von Biafra, sondern von Osama McDonald, während am Schlagzeug Saddam Disney hockt. Angewandt auf Künstlerpseudonyme, will das Collagen-Prinzip, auf das die Melvins genauso abfahren wie Biafra, so gar nicht funktionieren.

Die Platte der Melvins zusammen mit Lustmord ist etwas ganz anderes. Auch hier arbeitet die Band zwar mit einem Fossil des großen Punkaufbruchs Ende der Siebziger zusammen, doch während Biafra immer versucht hat, zu retten, was noch zu retten ist, hat Lustmord auf seinen Soloplatten lieber gleich das Ende der Welt ausgerufen. Und dementsprechend geklungen. Mit Lustmord haben sich die Melvins eine Art externen Rockzertrümmerer mit ins Boot geholt. Sonst müssen sie ihre Songstrukturen mühsam selbst zerlegen, hier macht das der eifrige Lustmord. Praktisch.

Sowohl die Platte mit Biafra als auch die mit Lustmord ist freilich nicht viel mehr als Spielerei, beide wirken wie die Ergebnisse zweier chemischer Reaktionen, die dokumentiert wurden. Vielleicht ist den Melvins allein auch nichts mehr eingefallen, immerhin hätten sie dann versucht, das Problem zu beheben.

Darüber, was passieren kann, wenn man mit den Melvins und ihrer Musik interagiert, darum geht es auch in dem großen „Die Melvins sind ungefähr zwanzig Jahre alt“-Buch „Neither Here Nor There“. Das Buch ist ein Fanprodukt, ein Katalog zur Dauerausstellung „The Melvins“ und ein Kunstband gleichzeitig. Es ist ein Projekt, auf das die Kunstszene-verbundenen Kollegen von Sonic Youth seltsamerweise noch nicht gekommen sind. Es verhält sich kongenial zur Musik der Band: Wer es verstehen und wissen will, wie es genau funktioniert, wird sich anstrengen müssen.

Die Story der Band, die aus demselben Kaff stammt wie Kurt Cobain und von diesem kultisch verehrt wurde, wird zwar angerissen, läuft aber ins Leere. Überhaupt gibt es nur ganz wenig Text, das Buch ist vor allem bunt und dick, ein echter Coffee-Table-Ziegel. Die unterschiedlichsten Künstler, Grafikdesigner und Comiczeichner haben sich mit den Melvins vielmehr visuell auseinander gesetzt. Teils hat das dokumentarischen Charakter, etwa wenn Frank Koziks Coverartworks für die Band oder die Exponate einer New Yorker Ausstellung, die von Fan-Künstlern manipulierte Melvins-Cover gezeigt hatte, abgedruckt werden. Doch hauptsächlich wird man Dank wilder Cut-up- und Collagentechniken durch ein verschlungenes Reich der Zeichen und Codes geleitet, durch Trash- und Pop-Art des amerikanischen Kunst-Undergrounds, in dem es von Hakenkreuzen, erigierten Superpenissen und visuellen Albträumen nur so wimmelt. Melvins-Art ist schockierend, brutal, surreal oder einfach nur unverständlich. Wie die Musik der Band seit zwanzig Jahren.

ANDREAS HARTMANN

Melvins und Lustmord: „Pigs Of The Roman Empire“ (Ipacec); Jello Biafra with The Melvins: „Never Breathe What You Can’t See“ (Alternative Tentacles); Melvins: „Neither Here Nor There“ (Ipacec, 30 Dollar)