39 Sekunden Sprachförderung – pro Jahr

Bislang helfen die Länder Kindern mit Sprachproblemen auf niedrigstem Niveau. Jetzt verspricht die KMK Besserung

Die Pisa-Verlierer stehen seit langem fest: Es sind Kinder, die nicht richtig Deutsch können; deren Eltern Einwanderer oder Sozialhilfeempfänger sind. Seit der ersten Pisa-Studie ist klar, dass diese Schüler dringend Hilfe brauchen. Doch noch immer gibt es keine echten Förderprogramme in den Schulen. Erst jetzt, nach Pisa 2003, hat die Konferenz der Kultusminister „frühzeitige gezielte Förderung“ versprochen. Bei „ungünstigen Entwicklungen in der Bildungsbiografie“ soll es Ausgleichsmaßnahmen geben. Experten fürchten, dass alles am Geld scheitert.

Zusatzstunden für leistungsschwache Schüler gibt es schon seit Jahrzehnten. Meist mussten die Kinder nach dem regulären Unterricht eine Stunde länger bleiben. Oder sie wurden in zusätzlichen Arbeitsgemeinschaften betreut. Doch die bisherige Förderung reichte bei weitem nicht aus. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Baden-Württembergs etwa hat ausgerechnet, dass das Land pro Schüler Kapazitäten für 39 Sekunden gezielten Förderunterricht hat – pro Jahr. Zum Vergleich die Praxis in finnischen ersten und zweiten Klassen: Wenn dort Kinder nicht mitkommen, erhalten sie sofort parallel zum normalen Unterricht Förderstunden – so lange, bis sie ihren Klassenkameraden wieder folgen können.

Das baden-württembergische Kultusministerium hält dagegen. Die 655,3 Lehrerstellen, die es für Sprachförderung in Grund- und Hauptschulen gebe, reichten vollkommen aus. Seit diesem Schuljahr würden 4.000 Kinder in Baden-Württemberg in Grundschulförderklassen für die erste Klasse fit gemacht – ein Konzept, dass es unter dem Namen Schulkindergarten schon seit mehr als 30 Jahren gibt.

„Die Politik nimmt das Problem nicht ernst genug. Es wird zu sehr auf Seiten der Schüler gesehen, dabei hat die Schule versagt“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Heidi Rösch von der Technischen Universität Berlin. Wenn Schüler nach vier oder sechs Jahren Grundschule in die Hauptschule kämen, ohne richtig Deutsch zu können, seien sie daran nicht selbst schuld. „Die Ignoranz der Bundesländer ist an dieser Stelle riesengroß“, meint Marianne Demmer, Schulexpertin der Bundes-GEW. Seit Jahren blieben alle Ansätze im Versuchsstadium hängen. Gegenwärtig gebe es bundesweit rund 40 Projekte zur Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund – aber kein flächendeckendes Programm.

„Die hohen Anforderungen sind durch herkömmlichen Förderunterricht kaum leistbar“, weiß allerdings Sprachwissenschaftlerin Rösch. Das heißt: Bisher sind Förderstunden als Nachhilfekurse für alle möglichen Fächer angelegt, weil die Schüler aufgrund ihrer Sprachprobleme auch in Mathe und Biologie kaum mitkommen. „Es muss sich aber im Unterricht etwas ändern“, sagt Rösch. Das Idealbild: Lehrer in allen Fächern fördern die Sprachkenntnisse der Kinder. Zusätzlich gibt es richtigen Sprachunterricht.

Doch der Wille der Länder, die Sprachförderung fest in ihr Schulkonzept zu integrieren, ist begrenzt. Berlin setzt auf eine Billigvariante: Arbeitslose Grundschullehrer sollen als Sprachförderer eingesetzt werden – als Ein-Euro-Jobber via Hartz IV. Dabei sind die Sprachdefizite der Hauptstadtkinder erschreckend: Fast die Hälfte der Vorschulkinder spricht so schlecht Deutsch, dass sie in Vorbereitungskurse für die Schule fit gemacht werden müssten. Unter Migrantenkindern beträgt die Quote 80 Prozent. Fünf- und Sechsjährige werden zum Förderunterricht verpflichtet.

Auch Hessen hat eine besondere Variante erfunden. Dort beginnen die Förderkurse vor dem Eintritt in die Schule. In die erste Klasse dürfen Kinder dann erst, wenn sie einen Sprachtest bestanden haben. Eine Politik, die nicht nur Demmer für skandalös hält: „Das Land schiebt den Eltern die Verantwortung zu.“

Sprachunterricht muss so früh wie möglich beginnen – und so lange wie nötig angeboten werden. Das empfehlen Experten wie die TU-Forscherin Rösch. „Es ist eine irrige Annahme, dass ein Intensivsprachkurs ein halbes Jahr vor Schulbeginn die Probleme löst“, kritisiert sie den hessischen Ansatz, „denn jeder weiß, wie lange es dauert, eine Sprache zu lernen.“ Deswegen muss der Unterricht auch in der Hauptschule weitergehen. Dort kämpfen die Lehrer mit „fossilierter“ Sprache, erzählt Rösch. Die Jugendlichen haben gerade genug Deutsch für den Alltag gelernt – für einen Beruf reicht es nicht. DANIEL ZWICK