Ein Hobby, eine Liebe und ein Ziel

Die Geburt des Fußballers aus dem Metall der Tipp-Kick-Figur: Gil Mehmerts Groteske „Aus der Tiefe des Raums“ glaubt, dass Günter Netzer in einem frühen Existenzstadium eine Dose war und später wie Klaus Nomi ausschaute

Hinter allen mehr oder minder bedeutsamen Ereignissen in der Historie der Popkultur standen zunächst ein Nerd und seine Schrullen. Coolness und Weltläufigkeit sind ihrem Gegenteil entsprungen, in ihren Herzen tragen sie noch die Verschrobenheit ihrer Anfänge. Diese sympathischen, an „Forrest Gump“ erinnernden Prämissen spielt die Fußballer-Groteske „Aus der Tiefe des Raumes“ geschickt aus, indem sie Märchenerzählung mit dem Retro-Style der bundesrepublikanischen Sechziger, erfundenes Biopic mit verhinderter Liebeskomödie, das „Wunder von Bern“ mit „Frankenstein“ verknüpft. Dabei gelangt sie schließlich zur Einsicht, dass wahres Talent sich auf den seltsamsten Wegen durchsetzt.

Hans Günter (Arndt Schwering-Sohnrey) hat ein Hobby, eine Liebe und ein Ziel. Sein Hobby heißt Tipp-Kick, seine Liebe gehört „Nummer zehn“, der perfekten Spielfigur, und sein Ziel lautet Teilnahme an der Deutschen Tischfußball-Meisterschaft. Dafür sägt und feilt und pinselt er geduldig nächtelang so lange an dem metallenen Kleinkicker, bis Stand- und Spielbein perfekt austariert sind und die Siegchancen gewiss. Andere Männer lassen ähnliche liebevolle Sorgfalt nur ihrem Auto zukommen, aber Hans Günter arbeitet schon tagsüber in einer Kfz-Werkstatt, in seiner Freizeit hat er Wichtigeres zu tun.

Beim lokalen Ausscheidungswettbewerb sticht er dank des Wunderkickers die Konkurrenz aus und gewinnt neben dem Pokal noch die Zuneigung der anwesenden Fotoreporterin Marion (Mira Bartuschek). Schnell landen die beiden in ihrer Wohnung, und von da an, so ist das nun mal mit dem Frisch-Verliebtsein, werden die Zusammenhänge, Verwicklungen und Zufälle immer unwahrscheinlicher. Der Metallkicker wächst, unter Blitz- und Rauch-Effekten, zum ganzen Kerl heran und stapft fortan als Klaus-Nomi-Lookalike durch die Gegend, immer auf der Suche nach dem kleinen Runden auf dem großen Grünen. Sein nichts ahnender Schöpfer vermisst ihn zunächst, erkennt ihn in anderer Gestalt wieder, kann es nicht rückgängig machen und fügt sich schließlich in die unfreiwillige Vaterrolle, denn „Günter“ Zwo (Eckhard Preuß) ist zwar ein begnadeter Tipp-Kick-Coach, weiß aber sonst nichts von dieser Welt. Doch die Mühen zahlen sich aus: zum Schluss wird ein Fußballheld geboren, aus dem reinen Tor wird ein Torjäger.

Der Plot könnte dem geläufigen Werbespruch entlehnt sein: „Ich war eine Dose.“ Die Idee, dass Günter Netzer in Wahrheit einst ein Tischfußball-Männchen war, bevor er in Mönchengladbach zum Spielmacher und zum ersten Popidol des Rasensports hierzulande wurde, das selbst Linken die lang ersehnte Ausrede lieferte, sich für Fußball begeistern zu dürfen, ist selbstredend sympathisch. Schade nur, dass der Film nicht noch weitere Antworten liefert: Was waren Beckenbauer, Müller, Breitner in ihren früheren Leben? Regisseur Gil Mehmert beherzigt die Regeln der Groteske und tischt den Zuschauern noch die unwahrscheinlichsten Vorgänge rund um die Menschwerdung des Metallmännchens mit der ruhigsten Selbstverständlichkeit auf, wie es selbst der große Seemannsgarn-Spinner Käpt'n Blaubär nicht besser hinbekommen hätte. Auch die Details wurden bedacht: Wie Netzer zu seiner blonden Frisur kam, seine legendäre Lauffaulheit, seine präzise in den Torwinkel gezirkelten Freistöße. „Aus der Tiefe des Raumes“, die von Netzer niemals autorisierte Filmversion seiner gleichnamigen Biografie, kommt genau rechtzeitig zu einem doppelten Jubiläum in die Kinos – die Firma Tipp-Kick gibt es seit 80 Jahren, der große Blonde feierte dieses Jahr seinen Sechzigsten. DIETMAR KAMMERER