Völkerverbindender Estrich

Kinder lieben es: Nutella. Dieser Tage wird sein vierzigjähriges Jubiläum begangen. Bange Frage aber: Ist die nussige Creme ein linkes oder ein rechtes Lebensmittel?

VON MARTIN REICHERT

Nur wo Nutella draufsteht, ist auch Nutella drin, und Nutella für das deutsche Volk wird auch in Deutschland hergestellt, nämlich im hessischen Stadtallendorf. Dort, auf dem Gelände einer früheren Munitionsfabrik, die mithilfe von Zwangsarbeitern für den Krieg produzierte, wird seit Ende 1964 jene Masse aus gerösteten Haselnüssen, Kakao, Trockenmilchpulver und pflanzlichem Öl zusammengerührt.

Sie avancierte zum süßen Kitt der jüngsten bundesrepublikanischen Wohlstandsgeneration, der „Nutella-Kinder“, Menschen, die heute über dreißig sind und den Geschmack ihrer Kindheit immer noch nicht verwunden haben. Für ihre Eltern scheint der Abschied nicht so schwer gewesen zu sein: In ihrer Kindheit war es noch üblich, sich beim stundenlangen Rühren von Pflaumenmus nachbarschaftlich zu unterstützen.

In einem von der Schriftstellerin Malin Schwerdtfeger imaginierten Erinnerungssaal der heute Dreißigjährigen hingegen steht eine alarmgesicherte Vitrine mit einem Glas Nutella, weil „wir (West) die als Kinder so gerne gegessen haben“. Nutella hat sich einen prominenten Platz in jenem Konsumwalhalla erobert, das so identitätsstiftend für jene angebliche „Generation Golf“ des jungen Konservativen Florian Illies ist – und geht demnach in seiner Bedeutung weit über die mit Kindheitserinnerungen getränkten Madeleines des Marcel Proust hinaus.

Illies hatte allerdings das Lebensgefühl von Jura- und BWL-Studenten beschrieben. Ist Nutella eine Nuss-Nugat-Creme für CDU-Wähler? Oder darf man ihnen diese Leckerei nicht kampflos überlassen? Ist es nicht eskapistisch und zudem elitär, sich zum teuren „Samba“ aus dem Bioladen zu flüchten? Also: Ist Nutella nun rechts oder links?

Weil Nutella in diesem Jahr vierzig Jahre alt geworden ist – seit Mitte November sind die mit Auftragskunst bedruckten Jubiläumsgläser im Handel –, trieb diese Frage bereits italienische Intellektuelle um. Der Journalist Gigi Padovani verfasste das Buch „Nutella. Un mito italiano“: Nutella, ein italienischer Mythos. Denn die Paste ist eine italienische Erfindung aus dem Piemont und wird von der Firma Ferrero hergestellt. Ein Fakt, der in Deutschland so gar nicht wahrgenommen wird, denn Nutella wird stets heimatnah beworben, von nationalen Sporthelden (Boris Becker, Martina Ertl) im gern alpinen Umfeld.

Nutella zählt allenthalben zur deutschen Leitkultur, ob als Aufstrich für das Frühstücksbrot oder als abdichtender Estrich für den Tortenboden – und ist offizieller Lieferant für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Doch hinter dem Watzmann breitet sich die eigentliche Heimat des Brotaufstrichs aus, das Piemont, Heimat der berühmten Haselnüsse. Autor Padovani behauptet, Nutella sei eine generationenübergreifende Süßigkeit: Die Menschen fühlten, dass Nutella zu ihnen gehöre. Deshalb sei Nutella, das in über hundert Ländern vertrieben wird, auch nie von Antiglobalisierungsaktivisten attackiert worden: „Gegessen sowohl von Prinzessinnen als auch von Proletariern, ist Nutella ein sozialer Gleichmacher, ähnlich der Pasta“, sagt Padovani.

Die italienische Linke reklamiert Nutella dementsprechend für sich, sie beruft sich dabei zudem auf eine Szene in „Bianca“, einem Streifen des linken Filmemachers Nanni Moretti, in der der Protagonist Kummer und Angst mittels eines Glases Nutella bekämpft. Padovani gibt jedoch zu bedenken, dass es Berlusconis rechtsgerichtete Forza Italia war, die Mitte der Neunzigerjahre landesweit „Nutella-Partys“ veranstaltet hatte. Nutella: doch eher rechts?

Andererseits: Die hessische SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti verpackte ihre Kritik an der Reformpolitik von Gerhard Schröder und die Forderung nach Wiedereinführung der Vermögensteuer appetitlich mit den Worten: „Die SPD wird den Reichen schon nicht die Nutella vom Brot nehmen.“ Die von Ypsilanti unterstellte Verbindung zwischen Reichtum und Nutella-Konsum könnte jedoch auch auf hessische Verhältnisse verweisen: Stadtallendorf, Nutella-Stadt mit 22.000 Einwohnern, ist laut Spiegel „fest im Griff“ von Ferrero.

Der CDU-Bürgermeister Manfred Vollmer, seine goldene Amtskette ein Geschenk des Firmenpatriarchen Michele Ferrero, betet sogar jeden Abend für den Schokoladenhersteller. Dieser dankte der hessischen CDU, indem er ihr bis einschließlich 1999 knapp fünfhunderttausend Euro zusteckte – ein Ferrero-Küsschen, das im Rahmen der hessischen Spendenaffäre ans Licht der Öffentlichkeit kam. Und dann wären da noch die saisonweise beschäftigten Gastarbeiterinnen aus Italien, die, ohne jeden gewerkschaftlichen Schutz, bei Ferrero schuften.

Die klebrige Schokospur in Richtung CDU führt sogar noch weiter: Der in diesem Jahr verstorbene Nutella-Tester Wilhelm Fresenius, Vater der deutschen analytischen Chemie und verantwortlich für das Prüfsiegel auf den Nutella-Gläsern, saß zwanzig Jahre lang als Abgeordneter in der Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden, er war CDU-Fraktionsvorsitzender. Allerdings hatte sich Fresenius im Alter beklagt, dass „heutzutage das Ego, der eigene Gewinn im Vordergrund“ stünden. Er galt zudem – als Gründungsvater der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau, Mitglied der Synode und viele Jahre Vorsitzender des Diakonischen Werks – eher als links. Es war also ein Mann des Glaubens, der die Qualität des Aufstrichs überwachte, ein Mann, der von der christlichen Soziallehre herkam – ein linker Herr von rechts?

Der Kerry-Wähler Matt Damon und die eher linksliberal angehauchte Franka Potente sind bekennende Nutella-Esser; die Süßigkeit hatte ihnen während der anstrengenden Dreharbeiten von „Bourne Identity“ löffelweise Trost gespendet. Auch in linken WGs gilt der Aufstrich als salonfähig, erst recht, wenn sein Verzehr im elterlichen Haus verpönt war: In gehobenen bürgerlich-linken Kreisen wurde Nutella noch nie konsumiert, dort galt (gilt?) das Primat reiner Sitten und reiner Marmeladen. Nutella? Pure Schlemmerei, die dem Nachwuchs die Milchzähne ruiniert.

Renate Künast hat nicht umsonst darauf hingewiesen, dass Fettleibigkeit bei Kindern eben auch eine Frage der sozialen Herkunft ist – für Arbeiterkinder war Nutella ein selbstverständliches Lebensmittel, allenfalls aus Kostengründen ward auf „Nusspli“ und andere Billigalternativen zurückgegriffen. Im Arbeiter-und-Bauern-Staat nebenan aß man gezwungenermaßen „Nudossi“.

Andererseits darf man den Ferrero-Brotaufstrich in Frankreich als „Nazi-Nutella“ bezeichnen. Der Komiker Michael Youn hatte Ferrero vorgeworfen, kritischen Medien Werbebudgets zu entziehen – das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Beleidigung eines Produkts nicht strafbar ist. Fest steht: Die ursprüngliche Nutella-Idee stammt aus dem Jahr 1940, jenem Jahr also, in dem das faschistische Italien in den Zweiten Weltkrieg eintrat. Damals hatte der piemontesische Konditormeister Ferrero eine spezielle pasta gianduja kreiert, sie wird bis heute hergestellt, ist freilich nicht streichfähig.

Erfunden wurde der Aufstrich also in einer Zeit, als das Essen in Europa knapp wurde. Weitere Zusammenhänge zwischen Nutella und Faschismus liegen im Dunkeln. Der internationale Siegeszug des heutigen Nutella begann zudem erst vor gut vierzig Jahren: Zuvor hatte das Produkt der Familie Ferrero „Supercrema“ geheißen.

Der neue Name entstand mithilfe der damaligen italienischen Mitte-links-Regierung, die die Verwendung von Superlativen in den Namen von Konsumgütern verboten hatte. Der Name Nutella, abgeleitet vom englischen nut, war geboren.

Nutella ist heute ein „glokales“ Produkt, es ist verwurzelt in seiner Ursprungsregion Piemont und ist dennoch eine auf dem ganzen Globus verbreitete Marke – so wie Coca-Cola hat sich die Nuss-Nugat-Creme in das Bewusstsein der Menschheit geschlichen. So gesehen gehört Nutella allen: Der Aufstrich ist ein Teil der jeweiligen Nationalkultur geworden – und blieb doch international.

Und weil Nutella jedem gehört, darf auch jeder damit machen, was er will. Nutella ist ein im Markenregister eingetragenes Fantasiewort. Deshalb bleibt es jedem und jeder überlassen, ob er oder sie „der“, „die“ oder „das“ Nutella sagt. Mit der politischen Ausrichtung des Produkts ist es so ähnlich.

MARTIN REICHERT, 31, ist taz-Autor und lebt in Berlin. Gegenüber Nutella bevorzugt er inzwischen „Samba“ aus dem Biomarkt